Nicholas Flamel Bd. 2 Der dunkle Magier
Traum war. Er war hellwach. Der Albtraum war Wirklichkeit.
Josh entfernte sich ein Stück von den Männern. Er schaute die Gasse hinauf und hinunter. Auf der einen Seite standen hohe Wohnhäuser und das Gebäude auf der anderen Seite sah aus wie ein Hotel. Die Wände waren mit mehreren Lagen kreativer Graffiti beschmiert, selbst auf den Mülltonnen prangten sie. Er stellte sich auf die Zehenspitzen und suchte über den Dächern nach dem Eiffelturm oder Sacré-Cœur, irgendetwas, an dem er sich orientieren konnte.
»Ich muss zurück«, sagte er und entfernte sich noch ein Stück weiter von den schwer ramponierten Männern. In Flamels Augen waren sie der Feind – vor allem Dee. Aber Dee hatte ihn gerade vor der Disir gerettet.
Der Magier schaute ihn an und seine grauen Augen funkelten freundlich. »Warum, Josh? Wo willst du denn hin?«
»Zu meiner Schwester.«
»Und zu Flamel und Saint-Germain? Dann sag mir doch mal, was sie für dich tun werden.«
Josh wich noch einen Schritt zurück. Er hatte nun schon zwei Mal gesehen, wie Dee Feuerblitze geworfen hatte – vor ein paar Tagen in der Buchhandlung und eben auf die Disir –, und er war sich nicht sicher, welche Reichweite sie hatten. Keine sehr große, nahm er an. Noch zwei, drei Schritte, dann würde er sich umdrehen und die Gasse hinunterrennen. Die erste Person, die er traf, konnte er anhalten und nach dem Eiffelturm fragen. Er überlegte, was auf Französisch ›Wo ist?‹ heißt. › Où est? ‹ oder vielleicht doch › Qui est? ‹? Oder hieß das ›Wer ist?‹? Er schüttelte leicht den Kopf und bedauerte es jetzt, im Unterricht nicht besser aufgepasst zu haben. »Versucht nicht, mich aufzuhalten«, sagte er und drehte sich um.
»Was für ein Gefühl war es?«, fragte Dee unvermittelt.
Josh drehte sich langsam wieder um und schaute den Magier an. Er wusste instinktiv, wovon dieser sprach, und automatisch bogen sich seine Finger so, als würde er ein Schwert halten.
»Was war das für ein Gefühl, als du Clarent in den Händen gehalten und gespürt hast, wie die elementare Kraft durch dich hindurchfließt? Wie war es, als du gewusst hast, was die Kreatur, die du gerade mit dem Schwert verletzt hattest, denkt und fühlt?« Dee griff unter sein zerrissenes Jackett und zog Clarents Gegenstück hervor: Excalibur. »Es war ein erhebendes Gefühl, nicht wahr?« Er drehte die Klinge in der Hand und ein blau schwarzer Energiestrahl flimmerte über das Steinschwert. »Du hast gewusst, was Nidhogg denkt … was er fühlt … woran er sich erinnert. Stimmt’s?«
Josh nickte. Es war alles immer noch ganz frisch und erschreckend lebendig. Die Gedanken und Bilder in seinem Kopf waren so fremd, so bizarr, dass sie unmöglich seiner Fantasie entsprungen sein konnten.
»Für einen kurzen Moment hast du gewusst, wie es ist, gottähnlich zu sein. Welten jenseits aller Vorstellungskraft zu sehen, fremde Gefühle zu empfinden. Du hast die Vergangenheit gesehen, Zeiten, die unendlich weit zurückliegen … Vielleicht hast du sogar Nidhoggs Schattenreich gesehen.«
Josh nickte langsam. Woher wusste Dee das alles?
Der Magier kam einen Schritt auf den Jungen zu. »Einen Augenblick lang, Josh, einen winzigen Augenblick lang war es, als wären deine Kräfte bereits geweckt – auch wenn das Gefühl dann noch viel intensiver sein wird«, fügte er rasch hinzu. »Du willst doch, dass deine Kräfte geweckt werden, nicht wahr?«
Wieder nickte Josh. Sein Atem ging schwer und das Herz hämmerte in seiner Brust. Dee hatte recht: In der Zeit, in der er Clarent in den Händen gehalten hatte, hatte er sich lebendig gefühlt, durch und durch lebendig, zum ersten Mal lebendig. »Aber es ist nicht möglich«, sagte er rasch.
Dee lachte. »Und ob es möglich ist. Hier und heute, wenn du willst«, fügte er triumphierend hinzu.
»Aber Flamel hat doch gesagt …« Josh spürte, wie seine Aufregung wuchs. Wenn seine Kräfte tatsächlich geweckt werden könnten …
»Flamel sagt viel. Ich fürchte, er weiß schon selbst nicht mehr, was stimmt und was nicht.«
»Aber du weißt es, ja?«
»Immer.« Dee hob die Hand und zeigte mit dem Daumen hinter sich, wo Machiavelli stand. »Der Italiener zählt nicht zu meinen Freunden«, sagte er leise, wobei er Josh fest in die Augen schaute. »Frag ihn, ob deine Kräfte noch heute Morgen geweckt werden könnten.«
Josh wandte sich Niccolò Machiavelli zu. Der große weißhaarige Mann wirkte etwas unbehaglich, aber er nickte zustimmend. »Der
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