Nicholas Flamel Bd. 2 Der dunkle Magier
die tropfnassen Wände. Das Licht machte auch die Leiter sichtbar, die allerdings lediglich aus großen Nägeln bestand, die in unterschiedlichen Winkeln in die Wand geschlagen worden waren. Die Nägel, von denen keiner länger als zehn Zentimeter war, waren völlig verrostet. Wasser tropfte an ihnen herunter. Sie beugte sich noch weiter vor, bekam den obersten Nagel zu fassen und zog mit aller Kraft daran. Er schien einigermaßen fest zu sitzen.
Perenelle drehte sich um und streckte ein Bein in das Loch. Ihr Fuß fand einen der Nägel und rutschte sofort ab. Sie zog das Bein wieder zurück, streifte ihre flachen Schuhe ab und steckte sie in ihren Gürtel. Sie hörte den Flügelschlag der Vögel – es waren Tausende, vielleicht Zehntausende – näher kommen. Sie wusste, dass schon der minimale Einsatz ihrer Kräfte, um den Beton zu schmelzen und den Schacht auszuleuchten, der Morrigan gezeigt hatte, wo sie sich befand. Sie hatte nur noch wenige Augenblicke, bevor die Vögel bei ihr waren …
Perenelle streckte das Bein wieder in den Schacht und ihr bloßer Fuß berührte den Nagel. Er war kalt und glitschig, aber wenigstens hatte sie jetzt einen besseren Halt. Sie griff mit beiden Händen in das störrische Gras und ließ sich in den Schacht hinunter. Auch der zweite Fuß fand Halt auf einem Nagel. Sie tastete mit der linken Hand die Wand ab, bis sie den nächsten Nagel gefunden hatte. Sie verzog das Gesicht. Es war ein ekliges Gefühl, schleimigen Rost zwischen ihren Fingern zu haben. Dann musste sie lächeln. Wie sehr hatte sie sich doch verändert! Als kleines Mädchen hatte sie in Quimper in Frankreich, wo sie vor vielen, vielen Jahren aufgewachsen war, in Felsbuchten gebadet, hatte Muscheln gesammelt und sie roh gegessen. Sie war barfuß durch die Straßen gegangen, in denen Dreck und Unrat knöcheltief standen.
Perenelle kletterte in den Schacht hinunter, wobei sie jeden Nagel prüfte, bevor sie ihr Gewicht darauf verlagerte. Einmal brach einer aus der Verankerung und verschwand in der Dunkelheit. Er schien unendlich tief zu fallen. Sie lehnte sich an die glitschige Wand und die Feuchtigkeit drang durch ihr dünnes Sommerkleid. Verzweifelt hielt sie sich fest und suchte nach dem nächsten Nagel. Als sie spürte, wie er sich in ihrer Hand bewegte, blieb ihr fast das Herz stehen, weil sie dachte, er würde ebenfalls aus der Wand brechen. Aber er hielt.
» Das war knapp. Ich dachte schon, du leistest mir bald Gesellschaft. « Der Geist de Ayalas erschien plötzlich direkt vor ihrem Gesicht.
»So leicht bin ich nicht umzubringen«, erwiderte Perenelle grimmig und kletterte weiter nach unten. »Obwohl es ein Witz wäre. Da hat man über Jahrzehnte die heftigsten Angriffe von Dee und seinen Dunklen Älteren überlebt und dann stirbt man bei einem Sturz.« Sie betrachtete die verschwommenen Konturen des Gesichts vor ihr. »Was ist da oben los?« Sie wies mit dem Kinn in Richtung Schachtöffnung, die nur an den grauen Nebelschwaden zu erkennen war, die hereinwehten.
» Die ganze Insel ist voller Vögel «, berichtete de Ayala. » Vielleicht Hunderttausende. Sie hocken überall, wo es nur möglich ist. Die Krähengöttin ist in den Gefängnistrakt gegangen. Bestimmt sucht sie die Sphinx. «
»Wir haben nicht viel Zeit«, warnte Perenelle. Ihr Fuß suchte den nächsten Nagel und versank bis zum Knöchel in weichem Schlamm. Sie hatte den Grund des Schachts erreicht. Der Schlamm war eiskalt und die Kälte drang ihr bis in die Knochen. Irgendetwas kroch über ihre Zehen. »Wohin?«
De Ayalas Arm erschien geisterweiß vor ihrem Gesicht; er wies nach links. Sie sah, dass sie am Anfang eines breiten, direkt in den Fels gehauenen Tunnels stand, der sacht abfiel. De Ayalas geisterhaftes Leuchten ließ die dicke Schicht Spinnweben erkennen, die die Wände überzog. Sie war so dick, dass es aussah, als seien die Wände silbern gestrichen.
» Weiter kann ich nicht mitkommen «, sagte der Geist plötzlich. » Dee hat hier im Tunnel unglaublich starke Abwehrzauber gewirkt und Runen platziert, an denen ich nicht vorbeikann. Die Zelle, die du suchst, liegt ungefähr zehn Schritte weiter vorn auf der linken Seite. «
Auch wenn Perenelle ihre magischen Kräfte lieber nicht noch einmal eingesetzt hätte, glaubte sie, keine andere Wahl zu haben. Ganz gewiss würde sie keinen Tunnel betreten, in dem es stockfinster war. Sie schnippte mit den Fingern und über ihrer rechten Schulter erschien eine weiße Lichtkugel. Die warf ein
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