Nicholas Flamel Bd. 2 Der dunkle Magier
gereckt. Über den Schultern trug er einen herrlichen Umhang aus vielfarbigen Federn. Am Fuß der Pyramide lag eine große Stadt mit Häusern aus Stein, umgeben von einem dichten Urwald. In der Stadt wurde gefeiert, die breiten Straßen waren voller Leute in leuchtend bunten Kleidern und mit kostbarem Schmuck. Umhänge und Kopfputz waren verschwenderisch mit Federn bestückt. Bei all der Farbenpracht fiel der Zug der weiß gekleideten Männer und Frauen, der sich durch die breite Hauptstraße wand, besonders auf. Als Sophie genauer hinschaute, sah sie, dass sie am Hals mit Stricken aus Leder und Reben aneinandergebunden waren. Wachen mit Peitschen und Speeren trieben sie auf die Pyramide zu.
Sophie zog schaudernd die Luft ein und blinzelte die Bilder weg. »Sie kannte ihn«, sagte sie nur. Dass die Hexe von Endor, wie sie jetzt wusste, Mars einmal geliebt hatte, verriet sie Flamel nicht … Das war lange her, lange bevor er sich verändert hatte, bevor er sich als Mars Ultor einen Namen gemacht hatte. Als Rächer.
K APITEL F ÜNFZIG
H eil dir, Mars, Gott des Krieges«, sagte Dee laut.
Gelähmt vor Angst, sah Josh, wie der gewaltige Kopf unter dem Helm sich Dee zuwandte. Die Aura des Magiers begann sofort zu glühen; wie ein gelber Nebel umgab sie ihn. Im Helm des Gottes leuchtete es rot. Der Kopf drehte sich zurück und grellrote Augen schauten Josh an. Phobos und Deimos, die beiden geistweißen Satyrn, kamen aus der Dunkelheit gekrochen, kauerten sich hinter das Steinpodest und beäugten Josh ebenfalls aufmerksam. Ein Blick auf sie genügte und er wurde von Angst und Panik geschüttelt. Er hätte schwören können, dass einer der beiden sich mit einer blauroten Zunge die dünnen Lippen leckte. Ganz bewusst zwang er sich, sie nicht mehr anzuschauen, und konzentrierte sich stattdessen auf den aus grauer Vorzeit stammenden Älteren.
»Du darfst keine Angst zeigen«, hatte Machiavelli gesagt, »und musst versuchen, deine Panik zu bezwingen.« Aber das war leichter gesagt als getan. Direkt vor ihm, so nah, dass er ihn hätte berühren können, saß der Ältere, den die Römer als Herrn des Krieges verehrt hatten. Von Hekate oder der Hexe von Endor hatte Josh vorher noch nie etwas gehört, und weil er nichts über sie wusste, hatten sie eine ganz andere Wirkung auf ihn gehabt. Bei Mars war es etwas anderes. Jetzt wusste er auch, was Dee gemeint hatte, als er sagte, das sei der Ältere, an den die Menschheit sich erinnerte. Das hier war der Kriegsgott höchstpersönlich, nach dem ein Monat und ein Planet benannt worden waren.
Josh versuchte, tief durchzuatmen und wieder ruhiger zu werden, doch er zitterte so sehr, dass er kaum Luft bekam. Ihm schlotterten die Knie, und er fürchtete, jeden Augenblick zusammenzubrechen. Er presste die Lippen zusammen, zwang sich, durch die Nase zu atmen, und versuchte, sich an einige der Atemübungen zu erinnern, die er im Kampfsportunterricht gelernt hatte. Er schloss die Augen, schlang die Arme um den Oberkörper und drückte fest zu. Er konnte das schaffen. Mars war nicht der erste Ältere, dem er gegenüberstand. Er hatte die Untoten gesehen und sogar mit einem urzeitlichen Monster gekämpft. Konnte das hier noch schlimmer werden?
Josh straffte die Schultern, öffnete die Augen und blickte auf die Statue von Mars … nur dass es keine Statue war. Das hier war ein lebendiges Wesen. Auf der Haut und den Kleidern des Gottes lag eine dicke graue Kruste. Nur seine Augen hinter dem Vollvisier leuchteten rot.
»Großer Mars, bald ist es so weit«, sagte Dee rasch. »Bald wird das Ältere Geschlecht in die Welt der Humani zurückkehren.« Er holte tief Luft und verkündete dann theatralisch: »Wir haben den Codex.«
Josh spürte den Beutel mit den Pergamentblättern unter seinem T-Shirt. Was würde mit ihm passieren, wenn sie wüssten, dass er die zwei fehlenden Seiten bei sich hatte? Würden sie seine Kräfte immer noch wecken wollen?
Bei dem Wort »Codex« fuhr der Kopf des Älteren wieder zu Dee herum. Die Augen glühten und roter Rauch ringelte sich aus den Sehschlitzen im Visier.
»Die Prophezeiung ist fast erfüllt«, fuhr Dee eilig fort. »Bald wird der letzte Aufruf erfolgen. Bald werden wir die gefangenen Älteren befreien und sie wieder in das ihnen zustehende Amt als Herrscher der Welt einsetzen. Bald werden wir die Welt wieder zu dem Paradies machen, das sie einmal war.«
Knirschend schwang Mars die Beine von dem Steinsockel und drehte sich in seiner sitzenden Position
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