Nicholas Flamel Bd. 2 Der dunkle Magier
Namen und Adressen von Leuten, die ihr völlig unbekannt waren, Szenen aus alten Fernsehshows, Filmposter. Sie kannte sogar die Titel von sämtlichen Elvis-Presley-Songs!
Doch all das waren die Erinnerungen der Hexe. Und im Moment hatte sie Probleme, sich an ihre eigene Handynummer zu erinnern. Was würde passieren, wenn die Erinnerungen der Hexe sich so weit in den Vordergrund drängten, dass sie ihre eigenen völlig überlagerten? Sie versuchte, sich auf die Gesichter ihrer Eltern zu konzentrieren, Richard und Sara. Hunderte von Gesichtern flackerten vorbei, von in Stein gemeißelten Gestalten, Köpfen riesiger Statuen, über Porträts auf Hauswänden bis zu winzigen, in Tonscherben eingeritzten Figuren. Sophie geriet in Panik. Warum konnte sie sich nicht mehr an die Gesichter ihrer Eltern erinnern? Sie schloss die Augen und stellte sich das letzte Zusammensein mit ihrem Vater und ihrer Mutter vor. Es musste vor ungefähr drei Wochen gewesen sein, kurz bevor sie zu ihrer Ausgrabung nach Utah aufgebrochen waren. Weitere Gesichter zogen hinter Sophies geschlossenen Augen vorbei: Bil der auf Pergamentblättern, Skizzen und rissige Ölgemälde, Gesichter auf verblichenen Schwarz-Weiß-Fotografien, Fotos aus alten Zeitungen …
»Sophie?«
Dann standen plötzlich in großer Klarheit die Gesichter ihrer Eltern vor ihrem geistigen Auge. Sophie merkte, wie die Erinnerungen der Hexe verblassten und ihre eigenen in den Vordergrund traten. Sie wusste ihre Handynummer wieder.
»Schwesterherz?«
Sie öffnete die Augen und blinzelte ihren Bruder an. Er stand direkt vor ihr, das Gesicht dicht an ihrem, die Stirn in besorgte Falten gelegt.
»Es ist alles in Ordnung«, sagte sie leise. »Ich habe nur versucht, mich an etwas zu erinnern.«
»An was?«
Sie lächelte gequält. »Meine Handynummer.«
»Deine Handynummer? Wozu?« Er hielt kurz inne, dann meinte er: »Kein Mensch weiß seine eigene Handynummer auswendig. Wann hast du dich denn das letzte Mal angerufen?«
Die Hände um dampfende Becher mit heißer Schokolade gelegt, saßen sich Josh und Sophie in einem ansonsten leeren, rund um die Uhr geöffneten Café ganz in der Nähe der Metro station Gare du Nord gegenüber. Nur ein Angestellter stand hinter dem Tresen, ein missmutiger, kahl geschorener Kellner, der sein Namensschild – er hieß Roux – verkehrt herum angesteckt hatte.
»Ich brauche unbedingt eine Dusche«, sagte Sophie. »Ich muss mir die Haare waschen und die Zähne putzen und ich muss frische Sachen anziehen. Ich habe das Gefühl, es ist Tage her, seit ich zum letzten Mal geduscht habe.«
»Ich glaube, es ist tatsächlich Tage her. Du siehst fürchterlich aus«, musste Josh ihr recht geben. Er griff über den Tisch und strich seiner Schwester eine Haarsträhne aus dem Gesicht, die an ihrer Wange geklebt hatte.
»Mir ist hundeelend«, flüsterte Sophie. »Erinnerst du dich noch an letzten Sommer in Long Beach, als ich diese Riesenportion Eis gegessen habe, danach den Hotdog mit Chili und die Fritten und die große Cola?«
Josh grinste. »Und meine restlichen Chickenwings hast du auch noch verputzt. Und mein Eis! Danach Volleyball zu spielen, war halt keine gute Idee.«
Sophie musste bei der Erinnerung daran lächeln, wurde aber gleich wieder ernst. Obwohl es an diesem Tag über 30 Grad gehabt hatte, hatte sie angefangen zu frieren, kalter Schweiß war ihr über den Rücken gelaufen und in ihrem Magen hatte eine Eisenkugel gelegen. Zum Glück hatte sie sich im Auto noch nicht angeschnallt, als sie sich übergeben musste, doch das Ergebnis konnte sich sehen lassen und der Wagen war mindestens eine Woche lang nicht zu gebrauchen gewesen. »Genauso fühle ich mich im Moment auch: Mir ist kalt, ich zittre und alles tut mir weh.«
»Versuch, wenn möglich, dich nicht hier drin zu übergeben«, murmelte Josh. »Ich glaube, Roux, unsere freundliche Bedienung, wäre nicht allzu begeistert.«
Roux arbeitete seit vier Jahren in dem Café. In dieser Zeit war er zweimal ausgeraubt und oft bedroht worden, aber nie verletzt. Durch die Tür des rund um die Uhr geöffneten Cafés kamen alle möglichen seltsamen und oftmals auch gefährlichen Typen, und für Roux gehörte dieses ungewöhnliche Quartett fraglos in die erste Kategorie, vielleicht sogar in beide. Die beiden Jugendlichen waren schmutzig und rochen nach Schweiß, sie waren erschöpft und schienen Angst zu haben. Der ältere Herr – möglicherweise ihr Großvater – war in keiner viel besseren
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