Nicholas Flamel Bd. 2 Der dunkle Magier
Licht kam von schwachen Glühbirnen, die in unregelmäßigen Abständen hinter Drahtgittern brannten. Ein bitteres Lächeln spielte um Perenelles Lippen. Das Licht brannte nicht wegen ihr. Die Sphinx fürchtete sich im Dunkeln. Sie stammte aus einer Zeit und Welt, in der im Dunkeln echte Ungeheuer lauerten.
Die Sphinx war von Juan Manuel de Ayalas Geist weggelockt worden. Sie wollte nachsehen, was es mit den seltsamen Geräuschen auf sich hatte, den klappernden Eisenstangen und schlagenden Türen, die sie plötzlich gehört hatte. Mit jedem Augenblick, den die Sphinx nicht in ihrer Nähe war, lud Perenelles Aura sich wieder auf. Noch war Perenelle nicht im Vollbesitz ihrer Kräfte, dazu musste sie erst schlafen und etwas essen, doch wenigstens war sie nicht mehr hilflos. Sie durfte nur nicht wieder in die Nähe ihrer Wächterin kommen.
Irgendwo hoch über ihr schlug eine Tür, und Perenelle erstarrte, als sie das Klick-Klack von Krallen auf Stein hörte. Dann begann in der Ferne eine einzelne Glocke zu schlagen, tief und feierlich. Perenelle hörte, wie die Sphinx davoneilte, um nach dem Ursprung der Töne zu suchen.
Die Zauberin rieb sich die Arme. Ihr war kalt. Sie trug ein ärmelloses Sommerkleid und normalerweise hätte sie ihre Temperatur über ihre Aura regulieren können. Da ihre Kräfte aber eingeschränkt waren, zögerte sie noch, sich ihrer in irgendeiner Form zu bedienen.
Perenelles flache Sandalen machten kein Geräusch auf dem feuchten Stein, als sie weiter durch den Korridor ging. Sie war vorsichtig, hatte aber keine Angst. Perenelle Flamel lebte seit über sechshundert Jahren, und während Nicholas sich ganz der Alchemie verschrieben hatte, hatte sie sich auf Zauberei konzentriert. Ihre Forschungen hatten sie an einige sehr dunkle und gefährliche Orte geführt, nicht nur auf dieser Erde, sondern auch in einigen der angrenzenden Schattenreiche.
Irgendwo in der Ferne ging Glas zu Bruch und Scherben fielen klirrend auf den Boden. Sie hörte die Sphinx heulen, doch auch dieses Geräusch war weit weg. Perenelle lächelte. De Ayala hielt die Sphinx auf Trab, das musste man ihm lassen, und egal wie intensiv sie suchte, sie würde ihn nie finden. Selbst eine so mächtige Kreatur wie eine Sphinx hatte keine Macht über einen Poltergeist.
Perenelle wusste, dass sie weiter nach oben und an die Sonne musste, wo ihre Aura sich schneller aufladen würde. Sobald sie im Freien war, konnte sie zwischen einem Dutzend einfacher Zaubersprüche, Beschwörungen und magischer Formeln wählen, mit denen sie der Sphinx das Leben zur Hölle machen würde. Ein skythischer Magier, der behauptete, beim Bau der Pyramiden für diejenigen Überlebenden von Danu Talis, die sich in Ägypten ansiedelten, mitgeholfen zu haben, hatte ihr eine sehr nützliche Formel verraten, mit der sich Stein schmelzen ließ. Perenelle würde nicht zögern, den gesamten Bau über der Sphinx zusammenbrechen zu lassen. Die würde wahrscheinlich trotzdem überleben – eine Sphinx zu töten, war so gut wie unmöglich –, doch aufhalten würde es sie bestimmt.
Perenelle entdeckte eine rostige Metalltreppe und eilte darauf zu. Sie wollte gerade den Fuß auf die unterste Stufe setzen, als sie ein graues Fädchen auf dem Metall sah. Perenelle erstarrte, einen Fuß in der Luft … und ging dann langsam und vorsichtig rückwärts. Sie kauerte sich hin und besah sich die Treppe genau. Aus diesem Winkel erkannte sie die Spinnwebfäden auf und zwischen den Stufen sofort. Jeder, der die Treppe betrat, war darin gefangen. Sie wich zurück und blickte suchend in die Dunkelheit. Die Fäden waren zu dick, als dass eine normale Spinne sie hätte hervorbringen können. Außerdem klebten winzige Tröpfchen aus reinem Silber daran. Perenelle kannte etwa ein Dutzend Kreaturen, die solche Netze hätten spinnen können, und sie hatte keine Lust, auch nur einer von ihnen über den Weg zu laufen, nicht hier und jetzt, wo sie noch so schwach war.
Sie drehte sich um und lief einen langen Flur entlang, in dem nur am Anfang und am Ende jeweils eine einzelne Glühbirne brannte. Jetzt, da sie wusste, wonach sie suchte, sah sie die silbernen Netze überall: Sie zogen sich über die Decke und sämtliche Wände, und besonders große Netze hingen in den Ecken und reichten bis in die dunkelsten Winkel. Die Spinnennetze erklärten möglicherweise, weshalb es in dem Gefängnis nicht von Ungeziefer wimmelte. Perenelle hatte nämlich weder Ameisen noch Fliegen, Mücken oder Ratten
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