Nicholas Flamel Bd. 3 Die mächtige Zauberin
nicht.«
»Wann dann? Wir können nicht ständig weglaufen und uns verstecken. Unsere Eltern schöpfen bestimmt schon Verdacht. Was sollen wir ihnen sagen?« Sie streckte die Hand aus und beobachtete, wie sich eine glatte, spiegelähnliche Silberhaut über ihre Finger legte. »Wie erklären wir ihnen das hier?«
»Gar nicht«, antwortete Flamel rundheraus. »Aber vielleicht ist das auch gar nicht nötig. Die Dinge entwickeln sich schnell, Sophie.« Französisch ausgesprochen klang ihr Name richtig exotisch. »Schneller, als ich es mir vorgestellt habe. Alles spitzt sich zu. Die Dunklen Älteren scheinen so verzweifelt hinter euch und den Codex-Seiten her zu sein, dass sie alle Vorsicht aufgegeben haben. Schau dir nur einmal an, was sie getan haben: Sie haben Nidhogg auf die Welt losgelassen, die Wilde Jagd und sogar den Archon Cernunnos. Das sind Wesen, die seit Jahrhunderten nicht mehr gesehen wurden. Seit ewigen Zeiten haben die Dunklen Wesen des Älteren Geschlechts versucht, Perenelle und mich wegen unseres Wissens um den Codex und die Zwillinge lebendig zu schnappen. Jetzt wollen sie uns töten. Sie brauchen uns nicht mehr, weil sie den größten Teil des Buches haben, und weil sie wissen, dass ihr die Zwillinge seid, von denen die Prophezeiung spricht.« Flamel seufzte erschöpft. »Ich dachte immer, wir hätten maximal einen Monat Zeit – einen Monat, bevor der Unsterblichkeitszauber endet und Perenelle und ich als steinalte Menschen verhutzeln. Inzwischen glaube ich das nicht mehr. In knapp zwei Wochen ist Litha, Mittsommer. Das ist ein Tag von allergrößter Bedeutung.
An diesem Tag rücken die Schattenreiche näher an diese Welt heran. Bis dahin wird alles vorbei sein, so oder so.«
»Was meinst du mit ›alles vorbei‹?«, fragte Sophie entsetzt.
»Alles wird anders sein.«
»Es ist bereits alles anders«, fauchte sie. Die Angst ließ sie wütend werden. Josh regte sich im Schlaf, wachte jedoch nicht auf. »Für dich ist das alles normal. Du lebst in einer Welt voller Monster und Fabelwesen. Josh und ich nicht. Zumindest bisher nicht. Erst seit du und deine Frau uns …«
»Ach, Sophie«, sagte Flamel sehr leise, »das hat nichts mit Perenelle und mir zu tun.« Er lachte in sich hinein. »Du und dein Bruder, ihr wurdet schon vor langer Zeit auserwählt.« Er beugte sich vor und seine Augen leuchteten in der Dunkelheit. »Ihr seid Silber und Gold, Mond und Sonne. Ihr tragt in euch die Gene der ersten Zwillinge, die vor zehntausend Jahren auf Danu Talis gekämpft haben. Sophie, du und dein Bruder, ihr seid Nachfahren von Göttern.«
K APITEL E INUNDVIERZIG
G ibt es jemanden, den du um Hilfe bitten könntest?« , fragte Juan Manuel de Ayala.
»Ich bin mir nicht sicher.« Perenelle lehnte an einem Holzgeländer fast direkt über dem offiziellen Schild, das Besucher auf der Insel willkommen hieß.
US STAATSGEFÄNGNIS
FLÄCHE DER INSEL ALCATRAZ: 12 MORGEN
ENTFERNUNG ZUR LANDESTELLE: 11/2 MEILEN
ANLEGEERLAUBNIS NUR FÜR STAATLICHE SCHIFFE
UNERLAUBTES BETRETEN DER INSEL VERBOTEN
Darüber war mit roter Farbe Indianer willkommen gepinselt worden, und darunter stand in größeren verblichenen roten Buchstaben: Indianerland . Perenelle wusste, dass die Zusätze aus dem Jahr 1969 stammten, als die amerikanische Indianerbewegung die Insel besetzt hatte.
Die Zauberin hatte den Rest des Nachmittags damit zugebracht, die Insel systematisch nach einer Fluchtmöglichkeit abzusuchen. Es gab keine Boote, dafür jede Menge Bauholz, und sie überlegte kurz, ob sie ein Floß bauen und die Planken mit Handtüchern und Laken aus den in ein Museum umgewandelten Zellen zusammenbinden sollte. 1962 waren drei Gefangene vermutlich mit einem selbst gebauten Floß entkommen. Doch Perenelle wusste, dass nichts an Nereus und seinen wilden Töchtern vorbeikommen würde. Sie stand im ersten Stock des Docks über der Buchhandlung und konnte von hier aus die Köpfe der Nereiden direkt vor sich im Wasser schaukeln sehen. Das lange Haar trieb wie Seetang hinter ihnen her. Aus der Ferne hätte man sie für Seehunde halten können, aber diese Wesen bewegten sich kaum und starrten sie nur mit ihren kalten Augen an, ohne zu blinzeln. Gelegentlich schnappten sie nach Fischen, und dann sah die Zauberin spitze Zähne, wenn die Nereiden ihre noch zappelnde Beute verspeisten. Ohne Zweifel hatten sie gehört, was Perenelle mit ihrem Vater gemacht hatte.
Auf ihrer Tour über die Insel hatte Perenelle Kleider gefunden, und sie trug jetzt eine
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