Nicholas Flamel Bd. 3 Die mächtige Zauberin
einen älteren Bruder. Ich habe ihn unendlich bewundert, wollte sein wie er.« Eine einzelne Träne erschien unter dem Rand von Shakespeares dicker Brille und rollte über seine Wange. »Und dann hat er mich betrogen und meinen Sohn getötet.«
K APITEL F ÜNFZEHN
I n den Katakomben tief unter den Straßen von Paris bürstete Dr. John Dee sorgfältig Staub vom Ärmel seiner Anzugsjacke, zupfte an seinen Manschetten und rückte seine Fliege zurecht. Er schnippte mit den Fingern, eine schwefelgelbe Kugel erschien und schwebte auf Kopfhöhe vor ihm in der Luft. Sie roch nach verfaulten Eiern, doch der Geruch war Dee so vertraut, dass er ihn gar nicht mehr wahrnahm. Schmutzig gelbes Licht fiel auf zwei Säulen aus polierten Knochen, die so zusammengefügt waren, dass sie eine Art Türrahmen bildeten. Hinter der Öffnung war es pechschwarz.
Dee betrat die Kammer mit dem erstarrten Gott.
In seinem langen Leben hatte der Magier Wunder erfahren. Er hatte gelernt, das Außergewöhnliche als gewöhnlich anzusehen, das Seltsame und Wunderbare als alltäglich. Dee hatte miterlebt, wie die Sagengestalten aus Tausendundeiner Nacht lebendig wurden, hatte gegen Ungeheuer aus griechischen und babylonischen Mythen gekämpft, hatte Reiche bereist, von denen die Leute glaubten, sie seien der Fantasie Marco Polos und Ibn Battutahs entsprungen. Er wusste, dass die Mythen der Kelten und der Römer, der Gallier und der Mongolen, der Wikinger und selbst die der Maya mehr waren als nur Geschichten – dass sie auf Tatsachen beruhten. Die Götter der Griechen und der Ägypter, die Geister der amerikanischen Hochebenen, die Dschungeltotems und die japanischen Myo-o hatten tatsächlich einmal diese Erde bevölkert. John Dee wusste, dass sie einem Älteren Geschlecht angehörten, das die Welt jahrtausendelang regiert hatte.
Einer der Mächtigsten dieser Älteren war Mars … Und vor weniger als vierundzwanzig Stunden hatte Dee ihn in einem Grab aus fester Knochenmasse eingeschlossen.
Der Magier sah sich in der großen runden Kammer mit der niedrigen Decke um. Die schwebende Kugel tauchte alles in ein fahlgelbes Licht. Auch wenn er seit Jahrzehnten wusste, wo sich die Kammer befand, hatte er bisher keinen Grund gehabt, hier herunterzusteigen und den Schlafenden Gott aufzusuchen, und gestern war dann alles so schnell gekommen, dass er keine Zeit gehabt hatte, sich die Grabstätte genauer anzusehen. Er strich mit den Fingern über die glatte Wand neben der Tür, und der Wissenschaftler in ihm erkannte die Zusammensetzung des Materials: Collagenfasern und Kalziumphosphat. Die Wände hier waren nicht aus Stein. Sie waren aus Knochen. Dee sah zwei Einbuchtungen in der gegenüberliegenden Wand. Dazwischen waren zwei längliche Einschnitte zu erkennen und darunter zwei Löcher, und plötzlich wusste er, was er da sah und wo er sich befand. Er blickte auf ein Paar Augen und eine Nase. Die Kammer war nicht, wie er gedacht hatte, in ein riesiges Knochenstück hineingesägt worden – er befand sich in einem gewaltigen Schädel. Und das Entsetzliche daran war: Das Teil sah fast aus wie ein menschlicher Schädel.
Dee lief es kalt über den Rücken. Er war zwar noch nie dort gewesen, aber er hatte von Schattenreichen gehört, in denen menschenfressende Riesen wohnten. Gestern waren die Wände noch glatt poliert gewesen; heute glichen sie einer Kerze, die längere Zeit zu dicht am Feuer gestanden hatte. Längst erstarrte Knochenstalaktiten hingen wie klebrige Bonbons von der Decke. Riesige Blasen waren während des Platzens erstarrt. Tropfen und Bäche einer zähen Flüssigkeit bildeten komplizierte geschwungene Muster.
In der Mitte des Raums lag eine rechteckige Steinplatte. Sie war bespritzt mit etwas, das aussah wie gelbe Wachskügelchen. Die antike Plinthe war in der Mitte auseinandergebrochen.
Und auf dem Boden vor der Steinplatte lag eine graue Statue, die teilweise mit der gelben Masse überzogen war. Sie stellte einen großen Mann auf Händen und Knien dar, in dem Moment, in dem er sich aufrichten will. Die Figur trug die in grauer Vorzeit übliche Rüstung eines Kriegers aus Metall und Leder. Der linke Arm war ausgestreckt, die Finger waren gespreizt. Die rechte Hand steckte bis zum Handgelenk im Boden. Auch der Unterkörper war von der Taille an im Boden versunken. Auf dem Rücken der Figur kauerten zwei hässliche kleine Kreaturen mit Hufen wie Ziegen, erstarrt in dem Moment, als sie einen Satz nach vorn machen wollten. Sie waren
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