Nicholas Flamel Bd. 4 Der unheimliche Geisterrufer
allem Planen und Aushecken aufgehört, an die Menschen zu denken, die er dabei manipulierte. Die Humani – die Menschen – waren für ihn nur noch Objekte gewesen, die man wie die Figuren auf einem Schachbrett hin und her schieben konnte.
Er hatte seinem Gebieter aus dem Älteren Geschlecht ergeben gedient und getan, was man ihm auftrug, selbst wenn er die Befehle nicht gutgeheißen hatte. Anfangs hatte er geglaubt – weil es die logische Schlussfolgerung war –, dass auf der Erde alles besser würde, wenn die dunklen Wesen des Älteren Geschlechts zurückkehrten.
Jetzt war er sich dessen nicht mehr so sicher.
Eigentlich schon seit zweihundert Jahren nicht mehr.
Und heute – heute war alles anders geworden. Die Wende war eingetreten, als er Quetzalcoatl, der Gefiederten Schlange, gegenübergesessen und dem arroganten Älteren zugehört hatte, wie dieser fast nebenbei entschied, ob er, Machiavelli, leben oder sterben sollte. Die Erkenntnis, dass er nur weiterleben durfte, weil Quetzalcoatl glaubte, Machiavellis Gebieter einen Gefallen schuldig zu sein, war ein Schock für ihn gewesen. Dass er den Älteren jahrhundertelang treu gedient hatte, war überhaupt nicht ins Gewicht gefallen. Seine Fähigkeiten, sein Wissen, seine Erfahrung hatten keine Rolle gespielt.
Nur Glück und Zufall hatten ihm das Leben gerettet.
Und wie er da auf dem Thron gesessen und mit Argumenten um sein Leben gekämpft hatte, war es ihm wie Schuppen von den Augen gefallen, dass er sich bei viel zu vielen Gelegenheiten ganz genauso verhalten hatte wie Quetzalcoatl. Er hatte über Leben und Tod zahlloser Männer, Frauen und Kinder entschieden, denen er nie begegnet war und die er nie kennenlernen würde. Er hatte Entscheidungen gefällt, die ihr Leben und das ihrer Nachfahren bis auf viele Generationen hinaus veränderten.
Marietta hatte recht gehabt: Ihm waren alle egal.
Andererseits aber auch unrecht. Sie hatte ihm immer viel bedeutet, und seine Kinder hatte er vergöttert, besonders seinen Sohn Guido, der wenige Jahre vor Machiavellis so genanntem »Tod« geboren wurde.
Was war geschehen? Was hatte ihn so verändert?
Die Antwort war immer dieselbe: Unsterblichkeit .
Seine Unsterblichkeit hatte ihn von Grund auf verändert, hatte sein Denken verzerrt und das rücksichtslose unmenschliche Ungeheuer aus ihm gemacht, das Marietta in ihm gesehen hatte, lange bevor er es tatsächlich geworden war. Er hatte aufgehört, Menschen als Individuen zu sehen. Er sah sie nur noch als Masse, entweder als Freunde oder als Feinde.
Sein Ehrgeiz hatte ihn blind gemacht. In seiner Arroganz hatte er geglaubt, dass er sich von den Menschen unterscheide, dass er in gewisser Weise den Älteren zuzurechnen sei. Doch heute hatte er erkennen müssen, dass die Älteren von ihm so viel hielten wie er vom Rest der Menschheit.
Und jetzt war er wieder auf einer Mission für die Älteren, einer Mission, die das Leben von Millionen von Menschen rund um den Erdball verändern würde. Er hatte am Schicksal von Nationen gebastelt. Jetzt war er dabei, die Zukunft der Erde neu auszurichten.
»Mir gefällt nicht, was ich sehe«, ließ sich Billy in seiner schleppenden Sprechweise vernehmen. Er stellte sich neben den Italiener.
Machiavelli blickte zu der Insel hinüber, die rasch näher kam. »Stimmt etwas nicht?«
»Nicht da drüben. Hier«, erwiderte Billy. Er schob die Hände in die hinteren Taschen seiner Jeans und senkte seine Stimme, sodass er über dem Brummen des Motors und dem Schlagen der Wellen nur für Machiavelli zu verstehen war. »Du hast einen Ausdruck an dir, der mir nicht gefällt.«
Machiavelli riss sich zusammen. »Einen Ausdruck?«
»Yep. Der Ausdruck von jemandem, der sich tiefgründige Gedanken macht. Finstere Gedanken. Dumme Gedanken.«
»Und du bist Experte im Mienenlesen, ja?«, fragte Machiavelli spöttisch.
»Das kannst du mir glauben«, erwiderte Billy und seine blauen Augen blitzten. »Hat mich bis heute am Leben gehalten. «
»Und was verrät mein Gesicht deiner Meinung nach?«, fragte Machiavelli. Bisher war es ihm immer gelungen, eine ausdruckslose Miene zur Schau zu stellen, und es ärgerte ihn, dass dieser ungebildete junge Unsterbliche es so ohne weiteres geschafft hatte, ihn zu durchschauen. Vielleicht hatte er den Amerikaner unterschätzt.
Billy zog eine Hand wieder aus der Tasche und rieb sich das unrasierte Kinn. »Du warst nie an einer Schießerei beteiligt, oder?«, fragte er.
Machiavelli blinzelte überrascht. »Was
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