Nicholas Flamel Bd. 4 Der unheimliche Geisterrufer
goldenen Schimmer. »Woher weißt du?«
Die Französin fasste die rothaarige Kriegerin an den Schultern und drehte sie um. Aus dem hohen Gras waren drei enorme Säbelzahntiger aufgetaucht. Sie standen reglos mit offenen Mäulern da und sahen mit großen Augen, ohne zu blinzeln, zu ihnen herüber. Nur ihre Schwanzspitzen zuckten. »Kämpfen oder fliehen?«, fragte Johanna.
»Wenn wir fliehen, verfolgen sie uns«, stellte Scatty sachlich fest.
»Wenn wir kämpfen, überwältigen sie uns. Es sind zu viele. Alles in allem vielleicht dreißig.«
Der größte der Tiger kam vorsichtig einen Schritt näher. Er bewegte sich fast in Zeitlupe. Die riesigen goldenen Augen mit den Schlitzpupillen waren starr auf Scathach gerichtet.
»Ich glaube, er mag dich«, murmelte Johanna. Sie griff nach dem Schwert, das sie sich über die Schulter geschnallt hatte, doch dann wurde ihr klar, dass die Waffe nutzlos wäre, falls die Tiere alle auf einmal angriffen.
»Hunde waren mir schon immer lieber«, sagte Scathach, wobei sie den Tiger genau beobachtete. »Bei Hunden weiß man, woran man ist.« Sie steckte ihre Zwillingsschwerter in die Scheiden auf ihrem Rücken und zog ihr Nunchaku aus dem Beutel, der an ihrer Hüfte hing. Bleib hier«, befahl sie und sprintete, noch bevor Johanna etwas erwidern konnte, auf den Tiger zu.
Das gewaltige Tier erstarrte.
Mit einem Dutzend Schritten war die Kriegerin bei ihm. Das Nunchaku in ihrer rechten Hand sirrte, so schnell wirbelte sie es herum.
Der Tiger duckte sich, sein Schwanz zuckte jetzt wild hin und her. Geifer tropfte in dicken Fäden von seinen gewaltigen Zähnen … Dann sprang er, die mächtigen Krallen ausgestreckt.
»Scatty!«, keuchte Johanna.
Da setzte die Kriegerin auch schon zum Sprung an, ein Sprung wie eine Schwimmerin, die ins Wasser eintaucht. Sie sprang direkt über den Tiger weg, ihr Nunchaku pfiff durch die Luft und das stumpfe Ende des 30 Zentimeter langen geschnitzten Holzstabes traf den Tiger am Hinterkopf. Scatty drehte sich in der Luft und landete weich auf den Füßen. Der Tiger krachte halb bewusstlos auf den Boden. Mit zitternden Gliedern rappelte er sich sofort wieder auf, wankte und fiel erneut.
Scatty drehte sich zu seinen beiden Gefährten um, wobei sie das Nunchaku leicht in ihre linke Handfläche klatschen ließ. Die Tiere blickten sie an, blickten ihren Gefährten an, wichen dann zurück und verschmolzen mit dem hohen Gras.
Als Johanna sich rasch umsah, begriff sie, dass auch die anderen Tiger verschwunden waren. »Sehr beeindruckend«, sagte sie.
»Du musst ihnen nur zeigen, wer der Boss ist«, erwiderte Scatty. Sie kniete sich neben den riesigen Säbelzahntiger, strich ihm mit der Hand über den Hinterkopf und hob dann sein Augenlid. Die Bestie brummte, machte jedoch keinen Versuch aufzustehen.
Johanna kauerte sich neben ihre Freundin und betrachtete das Gebiss des Tigers. Die Schneidezähne waren so lang wie ihre Hand und so spitz, dass sie wahrscheinlich eine Rüstung durchbohren konnten.
»Der Trick besteht darin«, erklärte Scatty, »dass man sie genau an der Stelle trifft, an der Schädelknochen und Rückgrat zusammenkommen. Der Schlag betäubt sie.«
»Und wenn man daneben trifft?«
»Macht man sie nur wütend.« Scatty entblößte beim Lächeln ihre eigenen gefährlich aussehenden Schneidezähne. »Aber ich treffe nie daneben.« Sie tätschelte die gewaltige Bestie. »Er wird Kopfschmerzen haben, wenn er aufwacht.«
Johanna von Orléans richtete sich auf und tippte ihrer Freundin auf die Schulter.
Scatty sah auf. »Was ist?«
Johanna wies mit dem Kinn in Richtung Böschung. Die zweiundzwanzig Säbelzahntiger hatten sich auf der Kuppe versammelt. Zwei weitere kamen dazu und dann noch einmal vier. Dem Aussehen nach handelte es sich um lauter ausgewachsene Tiere und ihr Knurren ließ den Boden vibrieren.
»Könnte der hier der Rudelführer gewesen sein?«, fragte Johanna.
Die Tiere traten beiseite, sodass eine Lücke zwischen ihnen entstand, und ein weiterer Säbelzahntiger erschien. Er war riesig, Kopf und Schultern überragten die anderen und mindestens um die Hälfte länger war er auch. Das graubraune Fell war durchsetzt von den weißen Linien alter Narben, einer seiner Zähne im Unterkiefer war bis auf einen gezackten Stumpf abgebrochen und sein linkes Auge war nur noch eine weiße, glasige Kugel.
» Das ist der Rudelführer«, sagte Scatty und trat einen Schritt zurück.
Das gute Auge des Tieres ging von dem Tiger auf dem Boden
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