Nicholas Flamel Bd. 4 Der unheimliche Geisterrufer
eingesetzt?«
Die Frage verschlug Sophie die Sprache.
Sie wollte die Unterstellung entkräften, doch die heimtückischen Erinnerungen der Hexe sickerten in ihr Bewusstsein und sie erhielt Hinweise und kurze Einblicke in die Wahrheit — die tatsächliche Wahrheit — über Scathach und weshalb sie die Schattenhafte genannt wurde.
»Du musst mir sagen …«, begann Aoife.
»Wirst du mir wehtun?«, fragte Sophie unvermittelt.
Die Frage kam völlig überraschend für Aoife. »Natürlich nicht.«
»Gut.« Sophie ließ sich aus der Hängematte gleiten und landete auf dem Boden. Sie schwankte leicht. »Ich brauche etwas zu essen. Ich bin am Verhungern. Hast du Chips oder Obst hier?«
Aoife blinzelte. Sie erhob sich anmutig und stellte sich vor Sophie hin. »Also – nicht wirklich. Ich esse nicht. Keine Lebensmittel … Zumindest keine, die du als solche erkennen würdest.«
»Ich brauche aber etwas zu essen. Richtiges Essen. Allerdings kein Fleisch«, fügte Sophie rasch hinzu. Allein bei dem Gedanken rebellierte ihr Magen schon. »Und auch keine Zwiebeln.«
»Was hast du gegen Zwiebeln?«, erkundigte sich Aoife.
»Ich mag den Geschmack nicht.«
Das Hausboot lag in der Bucht von Sausalito. Es war eine lange, rechteckige Kiste aus Holz – als säße das obere Stockwerk eines Hauses direkt auf dem Wasser. Es hatte bereits mehrere grüne Anstriche erhalten, jeder in einem anderen Ton. Doch die Seeluft und die Zeit hatten der Farbe zugesetzt und jetzt blätterte sie ab. In langen Fetzen hing sie herunter und ließ das fleckige Holz darunter erkennen. Das Boot hatte keinen Motor, und es war offensichtlich, dass es seit Jahren nicht mehr von seiner Anlegestelle wegbewegt worden war.
Sophie und Aoife saßen auf zwei weißen Plastikstühlen an Deck. Sophie hatte bereits zwei Bananen, eine Orange und eine Birne verspeist und futterte sich jetzt bedächtig durch ein Pfund Trauben. Die Kerne spuckte sie ins Wasser.
»Ich bin nicht deine Feindin«, begann Aoife. »Deine Freundin aber auch nicht«, fügte sie hastig hinzu. »Ich will nur wissen, was mit meiner Schwester passiert ist.«
»Warum?«, erkundigte sich Sophie neugierig und sah die rothaarige Frau von der Seite her an. Obwohl Aoifes Augen hinter einer dunklen Sonnenbrille verborgen waren, spürte Sophie, wie sie sich in sie hineinbohrten. »Ich dachte, ihr hättet seit Jahrhunderten nicht mehr miteinander gesprochen.«
»Deshalb ist sie trotzdem meine Schwester. Sie ist … meine Familie. Ich bin für sie verantwortlich.«
Sophie nickte. Das verstand sie. Sie hatte sich immer für ihren Bruder verantwortlich gefühlt, auch wenn er sehr gut auf sich selbst aufpassen konnte. »Wie viel von dem, was in den letzten Tagen passiert ist, weißt du schon?«, fragte sie.
Aoifes Antwort wunderte sie: »Nichts. Ich habe gespürt, dass Scathach ging und bin sofort hierher gekommen.«
»Wo warst du?«
»In der Wüste Gobi.«
Sophie legte sich einen Traubenkern auf den Daumen und schnippte ihn ins Wasser. Er beschrieb einen hohen Bogen, bevor er eintauchte. »Aber die ist doch in der Mongolei, oder?«
»Genau.«
»Scatty ist erst seit gestern verschwunden. Du musst über Krafttore hergekommen sein.«
Aoife nickte. »Ich habe einen kleinen Trick angewandt, den der Graf von Saint-Germain mir vor langer Zeit beigebracht hat. Er hat mir gezeigt, wie ich die goldenen und silbernen Säulen über den Krafttoren erkennen kann. So bin ich aus der Mongolei nach Japan zum Schrein der Ise gekommen, zum Uluru in Australien, dann auf die Osterinseln und schließlich zum Mount Tamalpais.« Sie beugte sich vor und tippte Sophie aufs Knie. »Ich hasse Krafttore.«
»Scatty sagt, sie machen sie seekrank.«
Aoife lehnte sich wieder zurück und nickte. »Genau. Mich auch.«
Sophie drehte sich zu dem Japaner um, der die Limousine gefahren hatte und jetzt alte Farbe vom Hausboot kratzte. »Ist er mit dir aus Japan gekommen?«
»Wer? Niten? Nein, er wohnt hier in San Francisco. Er ist ein Unsterblicher der menschlichen Art und ein alter Freund von mir.« Sie lächelte, und es wirkte echt. »Das Hausboot hier gehört ihm.«
»Sieht so aus, als sei er eine ganze Weile nicht mehr hier gewesen.«
»Niten ist viel unterwegs«, erklärte Aoife. »Er zieht von einem Schattenreich ins andere.«
Sophie wandte sich noch einmal dem Asiaten zu. Anfangs hatte sie angenommen, er sei maximal Anfang zwanzig, doch jetzt erkannte sie die Fältchen um seine Augen herum, und ihr fiel auf, wie
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