Nicholas Flamel Bd. 4 Der unheimliche Geisterrufer
Erinnerungen der Hexe wurden lediglich zu deinen hinzugefügt. Das ist alles. Sicher, es sind unter anderem unsere Erinnerungen und Erfahrungen, die uns einzigartig machen. Aber wenn die Hexe sich deiner Erinnerungen hätte bemächtigen wollen, hätte sie das längst tun können, bereits unmittelbar nachdem du zu ihr nach Ojai gekommen bist.«
Die Zauberin hielt inne und fügte dann leise hinzu: »Während der Zeit, als Nicholas in der Bastille im Kerker saß, ging ich bei der Hexe in die Lehre. Sie lebte damals in Südfrankreich und ich habe über ein Jahrzehnt bei ihr gelernt. Sie kann grausam und launisch sein und sie ist über die Maßen gefährlich, aber sie ist ausgesprochen schlecht organisiert. Es war ihr nie möglich vorausschauend zu planen. Das hat mich oft gewundert. Sie hat ihr Augenlicht geopfert, um die Fäden der Zeit beobachten zu können, die immer in Bewegung sind. Sie kann Jahre, Jahrzehnte, Jahrhunderte und selbst Jahrtausende in die Zukunft sehen und die verschlungenen Fäden bis an ihr mögliches Ende verfolgen. Aber sie ist so zerstreut, dass sie außerstande ist, ihren Tag zu organisieren. Oft vergisst sie die einfachsten Dinge. Ja, sie ist raffiniert, und wenn sie dich unter ihre Kontrolle hätte bringen wollen, hätte sie das getan, als sie dich erweckt hat.«
Sophie hatte das Gefühl, als sei ihr eine Zentnerlast von den Schultern genommen worden. »Dann bleiben ihre Erinnerungen und meine also voneinander getrennt?«
»Sie lassen sich gar nicht vermischen«, versicherte ihr Perenelle. »Du weißt es doch, wenn du es mit den Erinnerungen der Hexe zu tun hast, oder?«
Sophie nickte. »Ja, aber Flamel hat gesagt – «
»Nicholas irrt sich oft«, unterbrach Perenelle sie mit einem eisigen Unterton in der Stimme. »Ich liebe ihn, ich liebe ihn seit Hunderten von Jahren. Er ist etwas ganz Besonderes und hochintelligent, aber eben immer noch ein Mensch mit allen Fehlern und Schwächen eines Menschen. Er macht Fehler«, fügte sie hinzu. »Wir machen beide Fehler.« Sie schüttelte den Kopf und lächelte und ihre Stimme wurde wieder warm. »Also, nein, ich glaube nicht, dass die Erinnerungen der Hexe deine überlagern werden. Du hast einen zu starken Willen – den musst du haben, sonst hättest du nicht deine Erweckung überlebt und in so kurzer Zeit Luft-, Feuer- und Wassermagie gelernt. Und wenn ich ganz ehrlich bin«, fügte sie mit einem Lächeln hinzu, »glaube ich nicht, dass die Hexe etwas so Ausgeklügeltes hätte planen können. Sie war nie besonders scharfsinnig. «
Niten und Josh kamen wieder an Deck. Josh grinste übers ganze Gesicht.
»Wir sind gleich wieder da!«, rief Niten. »Wir holen nur eben den Wagen. Wir brauchen etwas, das eine Spur weniger auffällig ist als das rote Monstrum, in dem du gekommen bist.«
Sophie und Perenelle sahen Josh und dem Japaner schweigend nach, als sie aufs Dock sprangen und zwischen den Hausbooten verschwanden.
»Nicholas und ich werden Prometheus fragen, ob er Josh die Gabe der Feuermagie verleiht«, fuhr Perenelle schließlich fort. »Aber dein Bruder darf nicht wissen, was ihn erwartet, wir dürfen ihn nicht vor dem Meister des Feuers warnen.«
Sophie wollte gerade fragen, warum nicht, als mit einem Schlag die Erinnerungen kamen. Sie musste die Wangen zwischen die Zähne ziehen, um nicht laut zu lachen. Josh wollte unbedingt in Feuermagie ausgebildet werden, aber die Art und Weise, wie das geschah, würde ihm nicht gefallen.
Sie nickte. »Ich verrate nichts.«
»Gut.«
»Wer ist Niten?«, fragte Sophie aus heiterem Himmel. Die Hexe hatte den Namen noch nie gehört, und Sophie hatte die ganze Zeit schon auf eine Gelegenheit gewartet, mehr über den Japaner zu erfahren.
Ein Schatten legte sich über die grünen Augen der Zauberin. Sie versuchte den Mann zwischen den Hausbooten auszumachen. »Er ist unbestritten der beste Schwertkämpfer der Welt – der einzige Humani, der Scathach je in einem Duell besiegt hat. Aber wenn du ihn nach seinem Beruf fragst, wird er dir antworten, er sei Künstler. Und das stimmt auch: Was er mit dem Pinsel zustande bringt, ist legendär. Bevor Dee unser Apartment in New York niederbrannte, hing dort eines seiner Vogelbilder. Ein Original. Niten hat diese Welt und die angrenzenden Schattenreiche bereist, immer auf der Suche nach Gegnern, an denen er sich messen konnte – einzig und allein, um seine Kampfkunst zu perfektionieren. Man sagt, dass ihm irgendwann im siebzehnten Jahrhundert die
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