Nicholas Flamel Bd. 4 Der unheimliche Geisterrufer
sie über Nacht bleiben würden, damit er und die anderen Geister der Insel ein bisschen Spaß mit ihnen haben könnten. Doch die beiden Männer waren von einem Indianer gerettet worden, und während de Ayala dem Boot nachblickte, das Richtung San Francisco fuhr, fragte er sich, was wohl aus seiner geliebten Isla de los Alcatraces werden würde. Die Sphinx drehte immer noch ihre Runden auf den Gefängnisfluren, die hässliche Spinne Areop-Enap hing eingewickelt in einen riesigen Kokon in den Ruinen des Wärterhauses und der Alte Mann aus dem Meer und seine hinterhältigen Töchter patrouillierten im Wasser.
Der Geist schwebte zum Wachturm hinauf und wandte sich der Stadt zu, die er nicht mehr besuchen konnte. Er fragte sich, wie es heute wohl zuging in dieser riesigen Metropole am Rand des Kontinents. Er sah die Hochhäuser, die sich in die Wolken bohrten, und die sagenhafte orangefarbene Brücke, die die Bucht überspannte. Er beobachtete die Schiffe auf dem Wasser, sah die metallenen Vögel am Himmel und konnte gerade noch das blecherne Glitzern der Autos an der Küste erkennen. Als er Alcatraz entdeckt hatte, war Philadelphia mit vierunddreißigtausend Einwohnern die größte Stadt der Vereinigten Staaten gewesen. Jetzt wohnten über achthunderttausend Menschen in San Francisco – eine unbegreifliche Zahl – und über sechsunddreißig Millionen lebten in Kalifornien insgesamt. Was würde mit ihnen geschehen, wenn die Ungeheuer in die Straßen und in die Kanalisation der Stadt entlassen würden?
Ohne sich dessen bewusst zu sein, schwebte de Ayala über das Wasser in Richtung Stadt, bis ihn die unsichtbaren Bande, die ihn an Alcatraz fesselten, zurückzogen. Er würde die Insel beschützen – doch wie lange noch? Die Humani und das Ältere Geschlecht konzentrierten ihre Kräfte. Und ganz gleich, wie der bevorstehende Krieg ausgehen würde, de Ayala hatte keine Hoffnung, dass seine geliebte Insel ihn überstehen würde.
Und wenn es keine Felseninsel mehr zu bewachen gab, würde auch er irgendwann aufhören zu existieren.
KAPITEL NEUNUNDZWANZIG
S ophie, ich werde dich jetzt um etwas bitten, und zwar um etwas, das du vielleicht ein wenig … nun, merkwürdig findest«, sagte Perenelle leise.
Sie hatte Sophie am Arm beiseite genommen, während Josh und Niten die Plastikstühle ins Hausboot trugen. Aoife war unter Deck verschwunden und Flamel saß mit geschlossenen Augen am Bootsrand und hatte das zerfurchte Gesicht der Sonne zugewandt.
»Was ist es?«, fragte Sophie vorsichtig und sah die Zauberin an. Es war später Nachmittag und die Sonne machte die vielen Fältchen sichtbar, die sich um Perenelles Augen und Mund herum gebildet hatten. Sophie war sich nicht sicher, was sie von Perenelle halten sollte. Sie mochte sie immer noch – sie wollte sie immer noch mögen –, doch irgendetwas störte sie seit einiger Zeit an der Frau, und sie konnte nicht sagen, was es war.
»Es wäre besser, wenn du Josh nicht sagen würdest, was du, beziehungsweise was die Hexe über Prometheus weiß.«
Als der Name des Älteren fiel, blitzten die Augen des Mädchens auf – zuerst blau, dann silbern – und eine winzige Spur ihres Vanilleduftes mischte sich in die salzige Luft. »Ich versuche, die Erinnerungen der Hexe nicht an mich heranzulassen«, entgegnete sie vorsichtig.
»Warum nicht?« Perenelle klang ehrlich überrascht.
»Flamel hat mir gesagt, es bestünde die Möglichkeit, dass ihre Erinnerungen meine überlagern und ich die Hexe werden könnte.« Sophie runzelte die Stirn. »Oder ich sie. Wenn ich mich an alles erinnere, was die Hexe wusste, würde ich dann die Hexe werden?«
Perenelle lachte leise. »Etwas Absurderes habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht gehört.«
»Aber Flamel hat gesagt – «
»Nicholas hat das gesagt, was seiner Meinung nach stimmt«, erwiderte Perenelle. »Er irrt sich.«
Sophie drückte die Handballen auf die Augen und versuchte das Gehörte einzuordnen. »Aber wenn die Erinnerungen der Hexe stärker werden als meine …«
»Dann bist trotzdem du es, die sich erinnert. Und wirst es immer sein. Ich lebe seit Hunderten von Jahren auf dieser Erde. Ich erinnere mich an den Geruch der Haare meiner Großmutter und sie starb vor über sechshundertundsechzig Jahren. Ich weiß noch die genaue Adresse von jedem Haus und Apartment, von jeder Bruchbude, Mietwohnung und jedem Palast, in dem wir im Lauf der Jahrhunderte gewohnt haben. Eine Erinnerung verdrängt die andere nicht. Die
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