Nicholas Flamel Bd. 4 Der unheimliche Geisterrufer
Rücksitz.
»Alles, was ihr ringsherum seht, ist eine Illusion. Vergesst das nicht«, fügte Perenelle hinzu.
»Der Hades …«, begann Josh erschrocken. Seine Stimme war lauter geworden, doch eine Bewegung auf seiner rechten Seite lenkte ihn ab, und er sah aus dem Fenster. Der Wagen schlich jetzt über den Feldweg und Josh sah eine Gestalt zwischen den Bäumen hervortreten. Ihr folgten eine zweite und eine dritte und plötzlich säumte eine lange Reihe vage menschlich aussehender Wesen den schmalen Pfad. Sie wirkten unfertig, unförmig. Manche hatten zu große Köpfe, andere unterschiedlich lange Arme, große Füße an dünnen Beinchen oder Hände mit zu vielen Fingern. Die Gesichter waren fast glatt, mit nur leichten Einbuchtungen dort, wo normalerweise Augen und Mund saßen, und die Wesen waren alle kahlköpfig und hatten weder Ohren noch Nasen.
Als der Wagen näher heranfuhr, sah Josh, dass ihre tiefbraune Haut rissig und von zahllosen Runzeln überzogen war … wie getrockneter Schlamm. »Golems«, flüsterte er entsetzt. Sofort fielen ihm die Schlammwesen ein, die Dee mitgebracht hatte, als er die Buchhandlung verwüstet hatte.
»Das sind keine Golems«, sagte Sophie. Erinnerungen purzelten durch ihren Kopf. Bilder waren aufgetaucht, dunkle, erschreckende Gedanken an eine uralte, namenlose Stadt. »Nein, keine Golems …«
»Keine Golems«, fauchte Aoife und beugte sich zu Josh vor. »Untersteh dich, diese Wesen in einem Atemzug zu nennen. Golems sind nur ein müder Abklatsch von denen hier. Das sind die letzten Vertreter der Urmenschen.«
»Der Urmenschen?« Josh schüttelte den Kopf. »Nie gehört.«
»Wirklich nicht?«, fragte Aoife ungläubig. Sie blickte Nicholas, Perenelle und Sophie an, bevor sie sich wieder Josh zuwandte. »Aber du weißt doch, dass mein Onkel Prometheus die ersten Humani aus Ton geformt hat, ja?«
Die Vorstellung war so daneben, dass Josh lachen musste, doch dann merkte er, dass niemand im Wagen auch nur lächelte. Er schaute seine Schwester an.
Sie nickte kaum merklich. »Die Urmenschen.«
»Er hat Menschen aus Ton geformt? Das ist … aber das ist doch …«
»Wir haben diese Woche schon menschenähnliche Wesen aus Ton und aus Wachs gesehen«, erinnerte Sophie ihn rasch.
»Ich weiß, aber das waren Kunstwesen, denen Dee und Machiavelli mithilfe ihrer Aura Leben eingehaucht haben. Das kann ich noch irgendwie nachvollziehen.« Josh betrachtete die ungestalten Figuren entlang des Wegs und drehte sich dann wieder zu Aoife um. »Aber du behauptest, Prometheus hätte die Menschen erschaffen!«
Aoife ließ ihn nicht aus den Augen, während sie sprach: »Mein Onkel taucht in der Mythologie zahlreicher Völker auf. Er hat viele Namen, doch seine Geschichte ist immer dieselbe: Prometheus erschuf die ersten Humani aus Ton. Er wandte dabei eine alte Technologie an, die so fortgeschritten war, dass sie wie Magie erschien. Andere Ältere erschufen Tiere, doch Prometheus ging einen Schritt weiter. Für viele einen Schritt zu weit. Die Älteren hassten und verbannten ihn deshalb und verurteilten ihn zu einem langsamen Tod im Schattenreich Hades.«
Josh wandte sich erneut den menschenähnlichen Gestalten zu, die reglos am Wegrand standen. Dann kam ihm ein Gedanke und er drehte sich wieder zu den vier Mitreisenden auf den Rückbänken um. »Wenn er bei der Erschaffung der ersten Humani mitgeholfen hat, heißt das doch wohl, dass er uns auch helfen wird, oder?«, fragte er hoffnungsvoll.
Aoife stieß ein hässliches Lachen aus.
»Was ist daran so komisch?«, wollte Sophie wissen.
Die Kriegerin entblößte beim Grinsen ihre Vampirzähne. »Mein Onkel hat den Humani das Leben gegeben und sie in der Magie des Feuers unterwiesen. Aber sie haben sich von ihm abgewandt. Immer wieder haben sie sich von ihm abgewandt und ihn betrogen. Selbst euer Freund Saint-Germain«, fügte sie hinzu, packte unvermittelt Sophies Arm und drehte ihn so, dass man das Tattoo auf der Unterseite des Handgelenks sah. »Zuerst hat er sich mit meinem Onkel angefreundet, dann hat er ihm das Geheimnis des Feuers gestohlen.« Sie schüttelte den Kopf. »Prometheus verschwendet keine Zeit mehr auf die Humani. Er verachtet sie.«
Josh hatte sich wieder den Wesen zugewandt, die in der Zwischenzeit begonnen hatten, sich dichter um den Wagen zu scharen. »Und was machen diese Urmenschen hier?«
»Sie sind die Wächter des Schattenreichs.« Aoife grinste. »Und sie haben Hunger. Großen Hunger.«
Plötzlich ging ein Ruck
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