Nicholas Flamel Bd. 4 Der unheimliche Geisterrufer
rasch die Hand über den Mund, damit man seine schlechten Zähne nicht sah. »Im Augenblick werden wir von einem Baumgeist beobachtet. Er ist weiblich, klein, dunkelhäutig und hübsch und trägt ein Kleid, das vermutlich leuchtend grün ist.«
»Ich bin beeindruckt«, erwiderte Palamedes. »Wie kommt es, dass du all diese …« Plötzlich brach er ab. »Sie steht hinter uns, nicht wahr?«, flüsterte er.
Der Dichter nickte.
»Und sie ist nicht allein. Stimmt’s?«, fuhr Palamedes fort, wobei er den Blick weiter auf Shakespeare gerichtet hielt.
»Nein, ist sie nicht«, bestätigte William.
Saint-Germain drehte sich langsam so, dass er dem Ritter über die Schulter schauen konnte.
»Ich würde wetten, dass sie mit Pfeil und Bogen bewaffnet sind«, fuhr Palamedes fort.
»Mit Pfeil und Bogen und Speeren«, korrigierte ihn Saint-Germain.
Der sarazenische Ritter drehte sich zu dem Begrüßungskomitee um. Ihre gemusterte Kleidung war die perfekte Tarnung, sodass es einen Augenblick dauerte, bis er das Dutzend Frauen erspähte, das sich zwischen den Bäumen verteilt hatte. Wahrscheinlich war noch ein weiteres Dutzend in der Nähe, nur konnte er die nicht ausmachen. Sie waren klein und zierlich, ihre Gliedmaßen waren ein wenig zu lang, die Augen groß und schräg gestellt, die Münder schmale, gerade Striche in ihren Gesichtern. Es waren Dryaden, Baumgeister.
Eine – sie war etwas größer als die anderen – trat vor. Sie war mit einem kurzen, geschwungenen Bogen bewaffnet, in dem bereits ein Pfeil mit schwarzer Spitze lag. »Weist euch aus.« Ihre Stimme war wie das Wispern der Blätter.
Palamedes verbeugte sich vor dem Wesen. »Merry meet.« Er begrüßte sie mit der traditionellen heidnischen Floskel und fügte hinzu: »Ich habe euch hier noch nie gesehen.«
»Wir sind neu.«
Der Ritter richtete sich wieder auf. »Ihr habt einen charmanten Akzent. Naxos … nein, Karpathos. Und was machen griechische Dryaden in einem englischen Wald?«
»Er hat uns gerufen.«
Hinter dem Baumgeist bewegte sich etwas, und Palamedes trat zur Seite, als eine große, extrem schlanke Gestalt erschien. Sie hatte das Gesicht einer wunderschönen Frau, doch der Körper sah aus wie aus einem Baumstamm geschnitzt. Arme, die in zweigähnlichen Fingern endeten, reichten bis zum Boden und knorrige Wurzeln ersetzten die Zehen.
Unter dem Vorwand, den Neuankömmling vorstellen zu wollen, drehte Palamedes sich zu Shakespeare und Saint-Germain um. »Seht ihr nicht in die Augen«, flüsterte er eindringlich. Laut sagte er: »Meine Herren, es ist mir eine Ehre, euch Mistress Ptelea vorzustellen.« Er wandte sich wieder der Gestalt zu und verneigte sich tief. »Dich wiederzusehen, ist immer ein Vergnügen«, sagte er in der Sprache seiner Jugend.
»Herr Ritter.« Ptelea trat vor den Unsterblichen. Der hielt den Kopf gesenkt und vermied jeglichen Augenkontakt. Hätte er ihr in die Augen geschaut, wäre er sofort in ihren Bann geraten. Ptelea war eine Hamadryade. Der Ritter war sich nicht sicher, ob sie der Geist einer Ulme war oder tatsächlich ein zu menschlichem Leben erweckter Baum. Und auch wenn sie zu ihm immer höflich gewesen war, wusste er doch, wie gefährlich Hamadryaden waren. »Ich bin hier, weil ich meinen Gebieter sprechen möchte«, sagte Palamedes, den Blick auf ihre Kinnspitze gerichtet.
»Der Grüne Mann erwartet dich«, erwiderte sie. Sie wandte sich Shakespeare und Saint-Germain zu, die sich beide rasch verbeugten. »Weiß er, dass du nicht allein kommst?«
Palamedes nickte. »Ich habe ihm gesagt, dass ich ihn um einen Gefallen bitten möchte.«
Die Hamadryadin drehte sich um und ging tiefer in den Wald hinein. Palamedes folgte ihr. Dabei achtete er darauf, dass er nicht auf den Umhang aus Ulmenblättern trat, der hinter ihr auf dem Boden schleifte. »Die Dryaden sind neu hier«, bemerkte er im Plauderton. »Ich habe sie in diesem Wald noch nie gesehen.«
»Er hat die Wald- und Baumgeister aus dem gesamten Schattenreich zusammengerufen«, antwortete die Hamadryadin. »Seit Monaten sammeln sie sich nun schon hier.«
Palamedes nickte. »Ich habe mich schon gefragt, warum er so lange nichts von sich hören ließ. Es ging das Gerücht, dass er sich viel in den Schattenreichen aufgehalten hat.«
Ptelea verbeugte sich respektvoll, als sie an einer alten Eiche vorbeigingen, und für den Bruchteil einer Sekunde erschien das Gesicht einer wunderschönen Frau in der Rinde. Dann verschwand es wieder; nur die großen goldenen
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