Nicholas Flamel Bd. 5 Der schwarze Hexenmeister
Endor war kleinlich und nachtragend, gehässig und verbittert und voll Wut und Eifersucht. Sie neidete Prometheus seine Kräfte und Mars seinen Mut, sie fürchtete Niten und seine Verbindung zu Aoife. Und sie hasste Tsagaglalal, weil die ein so enges Verhältnis zu Abraham gehabt hatte. Das einzig Gute, was Sophie über die Hexe sagen konnte, war, dass sie sich anscheinend wirklich um das Wohlergehen der Humani sorgte und unermüdlich gekämpft hatte, um sie vor den gefährlichen Dunklen des Älteren Geschlechts zu beschützen.
Sophie folgte den unregelmäßigen Pflastersteinen, die in den Rasen eingelassen waren. Es ging einen steilen Abhang hinunter, und als sie sich umdrehte, konnte sie gerade noch das Dach des Hauses ihrer Tante erkennen. Sie schlüpfte unter einem Torbogen aus Holz hindurch, der von Efeu und Kletterrosen umrankt war. Er führte in den wilden unteren Teil des Gartens, wo das Gras hüfthoch wuchs und zwischendrin Wiesenblumen leuchteten.
Hier hatten sich die Zwillinge immer am liebsten aufgehalten.
Als Kinder hatten sie ganz hinten im Garten einen kleinen versteckten, von Hecken umsäumten Bereich entdeckt, den sie sofort zu ihrem Lager gemacht hatten. Es handelte sich um eine kreisrunde Lichtung, umgeben von Dornbüschen und mehreren uralten Apfelbäumen, die trotz ihrer vielen Blüten nie Früchte trugen. Mitten auf der Lichtung ragte der steinharte Stumpf einer alten Eiche aus dem Boden. Er trotzte Wind und Wetter und hatte fast einen Durchmesser von einem Meter. In einem Sommer hatte Sophie eine ganze Woche damit zugebracht, die Jahresringe zu zählen, um sein Alter bestimmen zu können. Sie war bis zweihundertunddreißig gekommen, bevor sie es aufgegeben hatte.
Die Zwillinge nannten die Lichtung ihren »geheimen Garten« nach dem Buch von Frances Hodgson Burnett, das Sophie damals gerade gelesen hatte. Jeden Sommer, wenn Familie Newman nach San Francisco kam, stürmte Sophie als Erstes hinaus in den Garten hinter dem Haus, um nachzusehen, ob noch alles so war wie zuvor und Tante Agnes’ Gärtner die Hecken nicht herausgerissen oder zurechtgestutzt hatten wie die ordentlichen Reihen von Sträuchern, die den restlichen Garten unterteilten. Doch jedes Jahr wuchs das Gras höher, die Hecken verwilderten noch mehr und nach und nach verlor der Weg sich im Gebüsch.
Es hatte einmal eine Zeit gegeben, als Sophie und Josh während ihrer Besuche jede wache Minute in dem geheimen Garten zugebracht hatten. Doch mit den Jahren hatte Josh das Interesse daran verloren – die Lichtung war so weit vom Haus entfernt, dass er kein Signal für seinen Laptop mehr bekam. Und so war der geheime Garten Sophies ganz privater Rückzugsort geworden, ein Ort, an dem sie lesen und träumen konnte, ein Ort, an dem sie allem entfliehen und nachdenken konnte. Und im Moment brauchte sie Zeit für sich, sie musste noch einmal nachdenken können über alles, was passiert war … und über Josh. Sie musste sich Gedanken über ihren Zwillingsbruder machen, wie sie ihn zurückholen konnte und was sie dafür unternehmen musste.
»Alles, egal was«, flüsterte sie.
Und sie musste über die Zukunft nachdenken. Die Zukunft begann nämlich, ihr Angst zu machen, und sie musste eine Entscheidung treffen – ohne jeden Zweifel die Entscheidung ihres Lebens.
Hier war sie wenigstens allein. Von dem geheimen Garten wusste sonst niemand.
Sophie zwängte sich durch das Gebüsch und blieb überrascht stehen. Tante Agnes – Tsagaglalal – saß auf dem Baumstumpf. Sie hatte die Augen geschlossen und das Gesicht der Nachmittagssonne zugewandt.
Die alte Frau öffnete die Augen und lächelte. »Wie? Hast du wirklich gedacht, ich wüsste nichts von diesem Platz?«
KAPITEL SIEBENUNDVIERZIG
I ch habe immer von diesem Platz gewusst«, sagte Tsagaglalal zu Sophie. Sie machte eine einladende Handbewegung. »Komm, setz dich zu mir.«
Sophie schüttelte den Kopf.
»Bitte«, sagte Tsagaglalal leise. »Ich habe diesen Ort für dich und deinen Bruder geschaffen. Warum habe ich wohl meinen Gärtnern nie erlaubt, hier etwas zu verändern?«
Sophie ging ein Stück am Rand der Lichtung entlang und setzte sich dann vor einem Apfelbaum auf den Boden. Sie lehnte sich an den knorrigen Stamm und streckte die Beine lang aus. »Ich weiß nicht mehr, was ich denken soll«, gab sie offen zu.
Tsagaglalal schwieg, den Blick fest auf das Gesicht des Mädchens gerichtet. Man hörte nichts als das Summen der Bienen und entfernte Verkehrsgeräusche.
»Ich
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