Nicholas Flamel Bd. 5 Der schwarze Hexenmeister
Schmelzen brachte, hatte ihm nichts anhaben können. Er stand auf einer felsigen Landzunge, die bei Flut zur Insel wurde. Der Turm aus glattem weißem, quarzähnlichem Kristall änderte je nach Wetter und Gezeiten seine Farbe, war mal von einem kühlen Grau, mal eisblau, alabasterweiß oder meergrün. Wenn die Flut gegen die glatten Mauern schlug, zischte und brodelte das Salzwasser, sodass der Turm ständig von einer Dampfwolke eingehüllt war. Die Steine selbst blieben dabei jedoch kalt. Nachts leuchtete der Turm in einem schwachen, phosphoreszierenden Licht, das die Farbe von Milch hatte. Es pulsierte in einem langsamen, gleichmäßigen Rhythmus wie ein großes Herz und schickte farbige Schlieren in Rot und Lila bis hinauf zur Spitze. Während der Wintermonate, wenn verheerende Hagelstürme vom ewigen Eis auf dem Gipfel der Welt hereinbrausten und Murias unter einer dicken Schnee- und Eisschicht begruben, blieb der Turm unberührt.
Die Bewohner Murias’, Ältere und Große Ältere, empfanden angesichts des Turms eine Mischung aus Bewunderung und Furcht. Wunder waren ihnen nicht fremd, sie waren Meister der Elemente-Magie, und es gab nur wenig, das sie nicht vermocht hätten. Sie wussten, dass sie Bewohner einer alten Welt waren, einer uralten Welt, und dass Reste ihrer urzeitlichen Vergangenheit noch in allen Ecken lauerten. Über Generationen hinweg hatten die Großen Älteren und die Älteren, die nach ihnen kamen, gegen die Archonen gekämpft und sie besiegt. Selbst die Letzten der schrecklichen Erdenfürsten hatten sie vernichtet. Ihre Kräfte – sie beruhten auf wissenschaftlichen Erkenntnissen, gelenkt von Aura-Energie – machten sie fast unverwundbar. Doch selbst sie fürchteten den einzigen Bewohner des Turms.
In den Legenden wurde die Insel Tor Ri genannt, was in der alten Sprache von Danu Talis »Turm des Königs« bedeutete. Doch kein König lebte hier.
Der Kristallturm war das Zuhause von Abraham dem Weisen.
Der große, rothaarige Krieger in der glänzenden purpurroten Rüstung wankte durch die schmale Tür. Er atmete schwer, beugte sich nach vorn und stützte die Hände auf die Oberschenkel. »Diese Treppe bringt mich noch mal ins Grab, Abraham«, keuchte er. »Sie will kein Ende nehmen und raubt mir jedes Mal den Atem. Irgendwann werde ich die Stufen zählen.«
»Zweihundertachtundvierzig«, erwiderte der große, kantige Mann. Er stand mitten im Raum und betrachtete konzentriert eine blauweiße Kugel, die sich vor seinem Gesicht in der Luft drehte.
»Ich dachte, es seien mehr. Mir kommt es immer vor, als dauerte das Treppensteigen eine Ewigkeit.«
Abraham drehte sich halb zu ihm um. Über die rechte Seite seines Gesichts fiel Licht von der rotierenden Kugel und verlieh seiner kalkweißen Haut einen ungesunden bläulichen Schimmer. »Auf dem Weg hier herauf bist du durch mindestens ein Dutzend Schattenreiche gekommen, Prometheus, alter Freund. Was glaubst du, weshalb ich dir geraten habe, nie auf den Stufen zu verweilen?«, fügte er mit einem pfiffigen Lächeln hinzu. »Du bringst Neuigkeiten?«
Abraham der Weise wandte sich dem hochgewachsenen Krieger jetzt ganz zu.
Prometheus straffte die Schultern. Die verinnerlichte Disziplin eines Kriegers ließ sein Gesicht wie von selbst zu einer ausdruckslosen Maske werden. Bevor er etwas sagen konnte, senkte sich die blaue Kugel ein Stück weit ab und schwebte auf ihn zu, bis sie direkt vor ihm in der Luft stehen blieb.
»Was siehst du, alter Freund?«
Prometheus blinzelte und konzentrierte sich auf die Kugel. »Die Welt …«, begann er. Dann runzelte er die Stirn. »Aber etwas stimmt nicht mit ihr. Es gibt zu viel Wasser«, stellte er mit Blick auf die immer noch rotierende Kugel gedehnt fest. Als er die Umrisse einiger Kontinente erkannte, fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. »Danu Talis fehlt.«
Abraham hob die Hand – er trug metallene Handschuhe – und steckte seinen Zeigefinger in die Kugel. Sie platzte wie eine Seifenblase. »Danu Talis ist nicht mehr«, bestätigte er. »Das ist nicht die Welt, wie sie sein wird, sondern wie sie sein könnte.«
»Wie bald?«
»Bald.«
Prometheus betrachtete Abraham den Weisen eingehend. Lange bevor der Ältere ihm zum ersten Mal begegnet war, hatte er die Legenden von dem geheimnisumwehten Wanderlehrer gehört, einem Mann, von dem es hieß, er sei weder Älterer noch Archon, sondern älter als beide, selbst älter als die Erdenfürsten. Es wurde berichtet, dass er aus der Zeit vor der Zeit
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