Nicholas Flamel Bd. 5 Der schwarze Hexenmeister
Boot hier zu mieten?«
»Ich habe höflich gefragt«, nuschelte er. »Wenn ich will, kann ich sehr überzeugend sein.« Er blickte hinüber zum Jachthafen von Treasure Island, wo ein älterer Herr mit einer weißen Baseballkappe auf dem Anlegesteg saß und verdutzt ins Wasser blickte. Nach einer Weile schüttelte der Mann den Kopf, stand auf und ging langsam zum Clubhaus zurück.
»Wir haben das Boot doch nicht gestohlen, oder?«, fragte Josh. Bei dem Gedanken war ihm nicht ganz wohl.
»Wir haben es geborgt.« Dee grinste. »Er hat mir die Schlüssel freiwillig gegeben.«
»Aber du hast doch hoffentlich nicht wieder deine Aura eingesetzt?«, fragte Virginia besorgt. »Die würde alles auf den Plan rufen –«
»Für wie blöd hältst du mich eigentlich?«, unterbrach Dee sie ärgerlich. Dann musste er sich allerdings wieder über den Bootsrand lehnen, weil ihm erneut übel wurde.
Virginia grinste und blinzelte Josh zu. »Gar nicht so einfach, den Boss heraushängen zu lassen, wenn man sich übergeben muss, wie?«
»Ich hasse dich, Virginia Dare«, sagte Dee.
»Und ich weiß, dass du das nicht wirklich ernst meinst«, erwiderte sie leichthin.
»Oh doch, das meine ich ernst.«
Virginia tippte Josh auf die Schulter und zeigte auf die Küste zu seiner Linken. »Halte dich immer dicht an Treasure Island. Wir folgen der Küste bis zur Nordspitze. Von dort sollten wir Alcatraz dann in der Bucht liegen sehen.«
Bevor Josh etwas darauf erwidern konnte, tauchte plötzlich ein riesiger Pier wie eine Betonwand direkt vor ihnen auf. Er riss das Steuer nach rechts, übersteuerte und das Boot beschrieb eine scharfe Kurve. Fast wäre Dee über Bord gegangen. Wasser schwappte ins Boot. Der Magier suchte krampfhaft Halt, rutschte jedoch aus und landete in einer öligen Pfütze.
Virginia lachte schallend.
»Du vergisst, dass ich keinen Sinn für Humor habe«, fauchte Dee.
»Ich schon.« Virginia wandte sich wieder an Josh und wies geradeaus. »Halte dich rechts und fahre um den Pier herum. Dann ziehst du wieder nach links und hältst dich dicht an der Küste. Aber nicht zu dicht«, fügte sie hinzu. »Es ist gut möglich, dass sich ein paar Felsbrocken gelöst haben. Treasure Island ist nämlich eine künstliche Insel. Da besteht immer die Gefahr, dass sie auseinanderbricht. Ich habe zugeschaut, wie sie in den 1930er-Jahren gebaut wurde. Damals lag sie noch höher als heute. Die ganze Insel senkt sich langsam ab. Beim nächsten größeren Erdbeben wird sie wahrscheinlich zerspringen.«
Josh betrachtete die felsige Küste. Die meisten Gebäude dort schienen von der Industrie genutzt zu werden und viele sahen ziemlich heruntergekommen aus. »Sieht verlassen aus. Wohnt hier eigentlich noch jemand?«
»Ja. Du wirst es nicht glauben, aber ich habe sogar Freunde hier. Sie wohnen auf der anderen Seite der Insel.«
»Ich hätte nicht gedacht, dass du überhaupt Freunde hast«, grummelte Dee.
»Im Gegensatz zu dir, Doktor, bin ich ein guter Freund«, erwiderte Virginia, ohne sich umzudrehen. Dann fuhr sie fort: »Die Insel war ein Marinestützpunkt, bis dieser in den späten 90er-Jahren aufgelöst wurde. Danach wurden etliche Filme und ein paar Fernsehserien hier gedreht.«
»Warum heißt sie eigentlich Treasure Island, also Schatzinsel?«, wollte Josh wissen. »Lag hier mal ein Schatz?« Es hatte einmal eine Zeit gegeben, da hätte er bei der Vorstellung laut gelacht, doch im Augenblick war er bereit, fast alles zu glauben.
Virginias Lachen war ansteckend. Josh stellte fest, dass sie ihm immer sympathischer wurde. »Nein. Sie wurde nach dem Buch von Robert Louis Stevenson benannt. Stevenson lebte ungefähr ein Jahr in San Francisco, bevor er seinen Roman ›Die Schatzinsel‹ schrieb.« Als sie die Nordspitze der Insel umrundeten, erhob sich Virginia und blickte zurück. »Wenn du mich fragst, war die Namensgebung ein Witz. Da ist eine Insel, gebaut auf Abfall und Schrott, und sie wird ›Schatzinsel‹ genannt.« Sie wandte sich wieder nach vorn und zeigte auf ein überraschend kleines Felsengebilde mitten in der Bucht. »Und da drüben liegt Alcatraz. Halte einfach immer darauf zu.«
Josh grunzte, als das Boot erneut auf eine Welle traf. Es wurde aus dem Wasser gehoben und fiel mit solcher Wucht zurück, dass er fürchtete, seine Knochen würden aus den Gelenken springen. »Die Insel ist weiter weg, als ich dachte. Ich war noch nie so weit von der Küste entfernt. Und ein Boot habe ich erst recht noch nie
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