Nicholas Flamel Bd. 5 Der schwarze Hexenmeister
inzwischen arg zerschrammte Seite. Kaum waren sie der Gefahr durch die Nereiden entronnen, war er wieder seekrank geworden.
»Hast du gehört?« Josh hob die Stimme, um den Magier auf sich aufmerksam zu machen. Den Unsterblichen so elend zu sehen, bereitete ihm ein gewisses Vergnügen.
»Ja, ich hab dich gehört«, murmelte Dee. »Was erwartest du jetzt von mir?«
»Es bedeutet, dass wir hier festsitzen«, erwiderte Josh. »Wie sollen wir wieder von der Insel runterkommen, falls …«, begann er. Und hielt abrupt inne.
Virginia Dare saß auf der Laufplanke, den Oberkörper zurückgelehnt und auf einen Arm gestützt, die Beine lang ausgestreckt. Sie trug keine Schuhe und ihre Füße waren ziemlich schmutzig. In der linken Hand hielt sie ihre hölzerne Flöte. Sie hatte sie leicht an die Lippen gelegt, doch falls sie darauf spielte, hörte Josh es über dem Rauschen der Wellen, die an die Holzpfähle schlugen, nicht. Die Unsterbliche war nass bis auf die Haut und um ihre Taille hatten sich Tangstränge gewickelt. Sie hatte sich das nasse Haar aus dem Gesicht gestrichen, was sie unendlich jung erscheinen ließ. Lächelnd blickte sie auf Josh hinunter und wies mit ihrer Flöte über die Bucht. »Das hast du übrigens gut gemacht. Sehr gut sogar.«
»Woher weißt du, dass ich es war?«, fragte Josh. Er war rot geworden bei dem Kompliment.
»Zu raffiniert für unseren Doktor aus England.« Virginia grinste. »Dee hätte Blitze vom Himmel regnen lassen oder die ganze Bucht ausgetrocknet. Die Bedeutung des Wortes Zurückhaltung kennt er gar nicht.«
»Du hättest uns helfen können«, maulte Dee. Er hatte sich im hinteren Teil des Bootes aufgesetzt.
»Hätte ich«, bestätigte Virginia. »Aber ich habe mich dagegen entschieden.«
»Ich war mir nicht sicher, ob ich dich noch einmal wiedersehe«, sagte Josh. »Und ich hätte nie gedacht, dass du deine Flöte jemals wiedersiehst«, fügte er mit einem Nicken in Richtung des Instruments hinzu.
Virginia ließ die Flöte zwischen den Fingern ihrer linken Hand hin und her wandern. »Ach, weißt du, wir sind alte Freunde, diese Flöte und ich. Wir sind … eng miteinander verbunden. Ich finde sie immer wieder. Und sie kommt immer wieder zu mir zurück.« Wieder lächelte Virginia. »Die Nereide hat einen entscheidenden Fehler gemacht. Sie hat versucht, darauf zu spielen. Und auf dieser Flöte spielt keiner außer mir.« Das Gesicht der Unsterblichen glich plötzlich einer Maske und ihr Lächeln wurde grausam. »Ich sage nur so viel: Nereus hat jetzt keine fünfzig Töchter mehr, sondern nur noch neunundvierzig.«
»Du hast sie umgebracht?« Dass die jugendlich wirkende Frau, die da auf dem Kai saß, eine Mörderin sein sollte, konnte Josh sich irgendwie nicht vorstellen.
Virginia ließ erneut ihre Flöte kreisen, und einen Moment lang bildete Josh sich ein, er hörte dieselbe Melodie, die die Nereide gesungen hatte. »Wir haben ihre Lieder gestohlen, ihre Stimme. Sie ist jetzt stumm und wird nie mehr singen können. Und Nereus wird keine Verwendung mehr für sie haben.« Plötzlich lachte Virginia, und ihre Flöte ahmte das Lachen nach, obwohl sie nicht einmal in der Nähe ihrer Lippen war.
»Aber deine Aura hast du nicht eingesetzt?«, fragte Dee besorgt, während er mit wackligen Knien aus dem Boot kletterte. Er bückte sich und Josh reichte ihm die Steinschwerter Excalibur und Joyeuse.
Virginia erhob sich geschmeidig und tippte Dee mit der Flöte auf die Schulter. Eine Sekunde lang hingen Fetzen einer misstönenden Melodie in der Luft. »Nein, Doktor, es war nicht nötig, meine Aura einzusetzen. Meine Flöte ist wie deine Schwerter – uralt, ewig und elementar. Doch im Gegensatz zu deinen Waffen, die nur töten und zerstören können, ist mein Instrument vielseitig einsetzbar. Es kann sogar Leben erschaffen.« Sie drehte sich um und ging über die Laufplanke auf eine Mauer zu. Darin eingelassen waren eine Uhr und eine Tafel mit den Worten ALCATRAZ ISLAND in weißen Buchstaben auf braunem Grund. Neben der Uhr blieb sie stehen, drehte sich um, schloss die Augen und hob ihr Gesicht der Sonne entgegen. »Das tut gut.«
Josh schnallte sich die beiden anderen Schwerter, Clarent und Durendal, auf den Rücken und kletterte aus dem Boot. »Der Diesel ist alle«, wiederholte er. »Wir sitzen hier fest.«
»Nicht, so lange wir die Schwerter haben«, rief Dee über die Schulter zurück. Seine Stimme hallte etwas auf dem leeren Dock. »Falls wir bereit wären, unseren
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