Nicholas' Geheimnis (German Edition)
»Die Insel selbst ist mir Unterhaltung genug. Ferien, in denen man von einer Sehenswürdigkeit zur nächsten hetzt, sind für mich keine Ferien.«
»Melanie ist seit zwei Tagen faul«, fiel Liz fröhlich ein. »Das ist für sie ein Rekord.«
Melanie musste an ihre nächtlichen Erlebnisse denken. Wenn Liz wüsste! »Ja, und ich will diesen Zustand noch auf zwei Wochen ausdehnen«, sagte sie. Von heute an gerechnet, fügte sie im Stillen hinzu.
»Dafür ist Lesbos genau der richtige Ort.« Dorian blies langsam den süßlich duftenden Zigarettenrauch aus. »Es ist so ländlich, ruhig …«
»So ruhig ist dieser Teil der Insel nun auch wieder nicht.« Iona strich mit einem perfekt manikürten und gelackten Fingernagel über den Rand ihres Glases.
Melanie sah, dass Dorian fragend die Augenbrauen hob und Alex tadelnd die Stirn runzelte.
»Wir werden unser Bestes tun, damit es hier zumindest während Melanies Aufenthalt friedlich bleibt«, warf Liz diplomatisch ein. »Normalerweise kann sie keine fünf Minuten still sitzen, aber wenn sie schon mal dazu entschlossen ist, werden wir ihr auch einen netten, ereignislosen Urlaub verschaffen.«
»Noch etwas Wein, Melanie?« Dorian stand auf und holte die Flasche.
Iona trommelte mit den Fingern auf ihre Sessellehne. »Es soll ja tatsächlich Leute geben, die Langeweile reizvoll finden.«
»Warum nicht? Langeweile ist auch eine Art, auszuspannen«, bemerkte Alex mit einem leicht gereizten Unterton.
»Und außerdem ist Melanies Beruf ungeheuer anstrengend«, setzte Liz hinzu und legte ihre Hand leicht über die ihres Mannes. »All diese ausländischen Diplomaten, das Protokoll der Politik …«
Dorian warf Melanie einen anerkennenden Blick zu und schenkte ihr Wein nach. »Jemand mit Ihrem Beruf könnte wahrscheinlich interessante Geschichten erzählen. Oder einen Bestseller schreiben.«
Es war schon lange her, seit ein Mann Melanie zum letzten Mal so aufrichtig bewundernd angesehen hatte, freundlich, ohne Hintergedanken und ohne sie abzuschätzen. Sie lächelte Dorian an.
»Oh ja, ein paar Kapitel kämen schon zusammen«, antwortete sie.
Die Sonne versank im Meer. Rosiges Licht fiel durch die offene Balkontür und durchflutete das Zimmer. Ein roter Abendhimmel, bedeutete das nicht eine ruhige See? Melanie beschloss, es als gutes Omen zu nehmen.
Ihre ersten beiden Tage waren alles andere als der Beginn ereignisloser Ferien gewesen, wie Liz gemeint hatte. Aber das lag jetzt hinter ihr. Mit Glück und Vorsicht würde sie diesem attraktiven Irren sicher nicht mehr begegnen.
Zufällig fiel Melanies Blick im Spiegel auf ihr eigenes, lächelndes Gesicht. Schnell wurde sie wieder ernst. Vielleicht sollte ich in New York einmal zum Psychiater gehen, überlegte sie. Wenn man anfängt, Verrückte anziehend zu finden, ist man selbst nicht mehr zurechnungsfähig. Schluss damit, befahl sie sich. Es gab wichtigere Probleme, denn es wurde Zeit, sich zum Dinner umzuziehen.
Seufzend trat Melanie vor den geöffneten Kleiderschrank. Nach kurzer Unentschlossenheit entschied sie sich für ein Kleid aus fließendem weißen Crêpe de Chine mit einem wehenden Flatterrock. Sie wusste, sie würde Dorian darin gefallen.
Jack hatte stets den strengen, sachlichen Look korrekter Kostüme bevorzugt und Melanies Vorliebe für romantische Baumwollkleider mit zarten Blumenmustern nie verstanden. Er meinte immer, man müsse auch in der Garderobe eine einheitliche Linie verfolgen, und verstand nie, dass Melanie sich mit ihrer Bekleidung ganz nach Stimmung und Gelegenheit richtete.
Heute Abend wollte sie sich amüsieren. Schon lange hatte sie nicht mehr mit einem Mann geflirtet. Sofort war sie in Gedanken wieder bei dem Fremden mit dem dunklen, ungebärdigen Haar. Sofort verdrängte sie den Gedanken. Sie stand auf, schloss die Balkontür und schob den Riegel vor. So bin ich vor ihm sicher, dachte sie zufrieden.
Liz schwebte im Salon umher. Zu ihrer Freude war Melanie noch nicht heruntergekommen. Jetzt konnte ihr großer Auftritt vor versammelter Gästeschar stattfinden. Liz liebte Melanie, und ihre unverbrüchliche Loyalität gebot ihr, Melanie glücklich zu machen. So glücklich wie sie mit Alex war, sollte auch Melanie werden – das hatte Liz sich geschworen.
Zufrieden schaute sich Liz im Salon um. Das Licht war gedämpft und schmeichelnd. Blumenduft zog durch die offenen Fenster herein. Wenn dazu noch der Wein kam, waren alle Voraussetzungen für eine Romanze gegeben. Melanie musste nur
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