Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)
erstarren zu lassen, sondern die Jugendlichen vor dem Bösen in der Vergangenheit als einer menschlichen Möglichkeit auch im Heute zu warnen.
Warum ist es so wichtig, dass uns das gelingt? Wir, meine sehr verehrten Damen und Herren, sind zu alt, um die Demokratie von morgen zu gestalten. Mit unserer Zivilcourage, so wir sie denn aufbringen, werden wir die Demokratie in der Zukunft nicht bewahren. Wir können nur Erfahrung weitergeben.
Diese Demokratie ist nicht nur bedroht von rechts, diese Demokratie wird auch ausgehölt durch Gleichgültigkeit. Es gilt bereits, auf die Frühformen des Verlustes von Demokratie zu reagieren: die langsame Entrechtung von Einzelnen, das Auslöschen der Herrschaft des Rechtes, die selektive Gewährung von Rechten, auch des Lebensrechtes und der Würde – eben das Schützenswerte in der offenen Gesellschaft und in der Demokratie.
So gehören Erinnerungsschritte und Zukunftsplanung zueinander. Ich hoffe, dass es uns gelingt, dieses Wissen zu vermitteln. Ich jedenfalls werde es versuchen. Denn wenn ich auch am liebsten schweigen möchte im Angesicht der Verbrechen, so weiß ich doch, dass ich reden muss von dem, was mich zum Schweigen bringen will.
44 Auszug aus Joachim Gauck, »Gedenkrede anlässlich der Gedenkveranstaltung des Hessischen Landtags für die Opfer des Nationalsozialismus am 27. 1. 2005«, in: Schriften des Hessischen Landtags, Heft 3, Wiesbaden 2006, S. 13–23.
45 Christopher R. Browning, Ganz normale Männer: Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die »Endlösung« in Polen, Hamburg 1993.
46 Arno Lustiger sprach zusammen mit Wolf Biermann am 27. Januar 2005 vor dem Deutschen Bundestag. Seine Recherchen über die Helfer veröffentlichte er in: Rettungswiderstand. Über die Judenretter in Europa während der NS-Zeit, Göttingen 2011.
Von Zeugenschaft, Verweigerung
und Widerstand
Anmerkungen zum Leben unter totalitärer Herrschaft
Berlin, 19. Juli 1996, Gedenkveranstaltung zum 20. Juli 1944 47
Als ich von Professor Steinbach gebeten wurde, anstelle des erkrankten Andrzej Szczypiorski diese Rede zu halten, fühlte ich mich »beauftragt«. Denn eigentlich, so kam es mir in den Sinn, sind wir alle Beauftragte – nicht nur die Angehörigen aus den Familien der Widerständler, sondern wir alle, die wir sehen, fühlen, denken können –, Beauftragte derer, die an der Gestaltung der Zukunft nicht mehr teilnehmen konnten, weil die Henker ihnen ihre Zukunft nahmen. Wir Nachgeborenen können diesen Auftrag nicht übersehen und uns ihm nicht entziehen, denn er stammt von jenen, die Land und Menschen menschlicher machen wollten.
Zweimal in diesem Jahrhundert erschien es allzu vielen Bürgern in diesem Land normal, sich an eine politische Ordnung anzupassen, der Recht und Gerechtigkeit fremd waren. Und wir fragen uns: Wann ist diese Anpassung menschlich verständlich und von politischer Rationalität, und wann wird sie Unterwerfung? Wie lange dauert es, bis wir die Lüge, die Verschleierungen der Diktatur, die scheinrationalen Argumente der totalitären Systeme als solche erkennen? Und ist es nur gelogen, wenn hinterher massenhaft berichtet wird, man habe nichts gewusst?
Hannah Arendt konstatierte 1950 nach einem Besuch in Deutschland bei der Masse der Deutschen einen »Verlust an Wirklichkeit«. Der allgemeine Gefühlsmangel und die offensichtliche Herzlosigkeit waren für sie das äußerliche Symptom »einer tief verwurzelten, hartnäckigen und gelegentlich brutalen Weigerung, sich dem tatsächlich Geschehenen zu stellen und damit abzufinden«. Menschen, die unter totalitärer Herrschaft leben – so erläuterte Arendt –, gewöhnen sich daran, nicht mehr ihrem eigenen Zugang zu Fakten und zur Realität zu vertrauen. Vielmehr folgen sie der Propaganda, übernehmen jeweils neue Mischungen aus Tatsachen und Meinungen – und erachten unter Umständen heute für wahr, was sie gestern noch für falsch hielten. Die Ideologien sind in diesem Zusammenhang relativ unerheblich, entscheidend ist, dass übernommen wird, was der Diktator als Wirklichkeit ausgibt.
Offensichtlich gibt es in uns Menschen eine sehr alte psychische Grundausstattung, die uns an Gemeinschaften bindet: die Neigung zum Aufgehen in einer Gruppe, die sich als Volk, als Glaubens- oder als ideologisch-politische Gemeinschaft versteht. Denn es bereitet Schmerz und Einsamkeit, wenn das autonome Ich sich in inneren oder äußeren Abstand oder Widerspruch zu Handlungen seines Kollektivs begibt, die es ethisch
Weitere Kostenlose Bücher