Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)
nicht mehr akzeptieren kann.
Des Weiteren müssen wir eine elementare Verlockung erkennen: Es ist verführerisch, als Nicht-Verantwortlicher zu leben. Glücklicherweise – sagen wir innerlich – haben »die da oben« uns die Entscheidungen abgenommen. Leider – sagen wir später – seien wir von Mitwirkungsmöglichkeiten abgeschnitten gewesen. Ohnmacht ist ein süßes Gift. Man lebt ungern in offizieller Ehe mit ihr, desto häufiger lebt man mit ihr in geheimer intimer Beziehung.
Sich zu fügen kann aber auch angezeigt erscheinen, wenn die Alternativen unklar oder unrealistisch scheinen. Joachim Fest erinnerte einmal an eine Notiz Ulrich von Hassells aus dem Jahre 1940: »Es ist kein Zweifel, dass, wenn dieses System siegt, Deutschland und Europa fürchterlichen Zeiten entgegengehen. Bringt es aber Deutschland in eine Niederlage, so sind die Folgen erst recht nicht auszudenken.« Viele werden empfunden haben wie von Hassell, 48 wonach es überhaupt keine gute Lösung geben konnte. Aufgrund des Mangels an letzter Klarheit entschieden sie sich, sich nicht zu entscheiden – und nahmen damit Gewalt und Unrecht hin.
Schließlich weiß Zygmunt Bauman, Soziologieprofessor in England, wie sogar die Opfer nationalsozialistischer Vernichtungspolitik dazu neigten, ihre Möglichkeiten der Rettung zu vermindern, indem sie mit ihren Feinden und Mördern kooperierten. An den Beispielen von Judenräten und jüdischen Polizisten in den Gettos zeigt Bauman, dass einige Opfer die Regeln des bürokratischen Apparats übernahmen, statt sich den Maßnahmen zu verweigern oder sich gegen sie aufzulehnen. Naziopfer erleichterten so letztlich das Werk der Täter, indem sie deren Rationalität übernahmen.
Weil wir künftigen Diktatoren die Arbeit nicht leicht machen wollen, sind Gedenktage wie diese wichtig, damit wir wieder und wieder von jenen erzählen, die mehr Mut und Hingabe besaßen, als es anderen möglich war. Menschen, die ihr Leben geben können für Freiheit, antworten in elementarer Weise auf die Freiheitssehnsucht aller Unterdrückten aller Zeiten – sie sind vertraut mit einem Begriff und einer Wirklichkeit von Freiheit, die im wahren Wortsinn »nicht von dieser Welt« ist.
Aus Sorge um den Verlust des Menschlichen am Menschen werden wir aber nicht nur auf Helden schauen, auf resistente Minderheiten. Wir werden auch die kleinen Schritte des Widerstands zu würdigen haben, die niedrigen Schwellen, die Jedermannsmöglichkeiten. Denn wir müssen kleine Schritte erlernen, bevor wir große Sprünge machen können. Der Mensch hat trotz Manipulierung und mannigfacher Prägung die Fähigkeit zur Wahrnehmung sowie zur Rückkehr zu sich selbst, zum eigenen Gewissen, zur eigenen Würde. Er kann den Verlust der Gemeinschaft ertragen, um mit dem eigenen Ich in Einklang leben zu können.
Erich Fromm sagte, man brauche einen eigenen Kern, um widerstehen zu können. Solches Widerstehen kann das Annehmen von Leidenssituationen, sogar des Todes einschließen. Manchmal erwacht die Fähigkeit zum Widerstehen gerade dann, wenn der Einzelne oder die Gruppe nicht im Gefühl von Stärke und Souveränität leben. Oft setzt sich erst auf dem Grund der Ohnmacht der Wunsch durch: So kann es nicht mehr weitergehen. Jetzt muss ich, jetzt müssen wir uns wehren.
Vielleicht beginnt der Prozess der Verwandlung von Ohnmacht in Vollmacht mit der elementaren Menschenfähigkeit der Sehnsucht. Denn Sehnsucht, wenn sie nach Freiheit oder Recht sucht, so »wie der Hirsch schreit nach frischem Wasser«, wird Hoffnung gebären. Wo aber im Politischen Hoffnung keimt, bricht die Erstarrung der Anpassung auf. Aus Hoffnung entsteht die Kraft zum Anderssein und danach vielleicht die konkrete Widerstandsform.
Dabei dürfen wir keine Widerstandstradition aus unserer Erinnerung ausgrenzen. Wir müssen auch Menschen würdigen, die wir wegen ihrer späteren Haltung oft kritisieren und manchmal verachten.
Ich spreche von Kommunisten, die auch bewundernswerte Phasen in ihrem Leben hatten, bevor sie Diktatoren wurden. Wer sie ernst nimmt, kann seine Kritik an ihnen durchaus mit Respekt, Achtung und Freude darüber verbinden, dass sie in einer Zeit, als andere still und harmlos blieben oder mitliefen und mitmordeten, eine richtige Wahl getroffen hatten.
Deutsche werden selten in großer Zahl so weit gehen wie die Polen mit ihrer Freiheitstradition. Polen halten es für eine Tugend, auch dann zu streiten, wenn der Erfolg höchst unsicher ist. Und sie gewinnen im Kampf
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