Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)
ständig vor Augen zu führen, dass unsere begrenzten Horizonte nicht ausreichen, um unserer Seele Flügel zu verleihen, dass Rationalität allein keine Visionen erzeugt oder uns nicht für sie entflammen lässt. Doch ohne die augenblicklich so verachtete Politik würde unser Staatswesen in Chaos versinken, ohne Politik gäbe es keinen Ausgleich der Interessen und keine staatlich garantierte Unterstützung für die Armen und Unterdrückten. »Wer sich nicht mit Politik befasst«, wusste schon Max Frisch, »hat die politische Parteinahme, die er sich sparen möchte, bereits vollzogen: Er dient der herrschenden Partei.«
Es gibt allerdings Situationen, in denen man das Wünschenswerte nicht tun kann, weil man nicht die Mittel hat, es durchzusetzen. Hätte der Westen im Europa des Kalten Krieges die Menschenrechte im Osten gewaltsam durchsetzen wollen, hätte das in einem Atomkrieg enden können. Bei der Abwägung zwischen Frieden und Freiheit galt es vor allem, den Frieden unter Wahrung des status quo zu erhalten, weil sonst ein Inferno gedroht hätte. Sich damals auf das Prinzip der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten zu verständigen ist rational nachzuvollziehen – auch wenn es am meisten der Sowjetunion und den diktatorischen Herrschern gedient hat.
Inzwischen haben sich die politische Lage und unsere Wahrnehmung geändert. Die Freiheit des Einzelnen wird inzwischen so hoch geschätzt, dass die Verletzungen von individuellen Rechten, die aus der Idee der Freiheit folgen, überall in der Welt verurteilt und möglichst geahndet werden sollen. Die Souveränität der Staaten gilt nicht mehr uneingeschränkt. Gerade ist der bosnisch-serbische General Ratko Mladić an das UN-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag überstellt worden. Das Völkerstrafrecht hat durch den Internationalen Strafgerichtshof eine feste Institutionalisierung erfahren, wo Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und Angriffskriege zur Anklage kommen können.
Schon der britische Philosoph John Stuart Mill benannte in seiner Schrift Über die Freiheit von 1859 zwei Situationen, in denen die Einmischung in die Handlungsfreiheit des anderen legitim sei: Nämlich dann, wenn es gelte, »sich selbst zu schützen«, und dann, wenn es gelte, »die Schädigung anderer zu verhüten«.
Für mich ist es beschämend geblieben bis heute, dass die Nato 1995 darauf verzichtete, den Vormarsch der bosnisch-serbischen Armee auf Srebrenica zu stoppen, und die niederländischen Blauhelme nicht befugt, nicht willens und zahlenmäßig wahrscheinlich auch nicht fähig waren, die Massenexekutionen von achttausend Bosniern zu verhindern.
Als beschämend bis heute empfinde ich es auch, dass sich die Anti-Hitler-Koalition nicht dazu entschließen konnte, die Bahnlinien zu den Vernichtungslagern zu bombardieren. Nach über sechzig Jahren ist in Deutschland gerade das Buch von Jan Karski erschienen, dem Kurier des polnischen Untergrunds, der 1943 bis zum amerikanischen Präsidenten Franklin Roosevelt vordrang. »Ich habe berichtet, was ich sah«, erklärte Jan Karski später dem französischen Regisseur Claude Lanzmann. Er hatte sich in das Warschauer Getto und das Vernichtungslager Izbica im polnischen Südosten einschleusen lassen. Doch auf Aktionen zur Rettung der Juden wartete er damals vergebens.
Sicher kann man nicht überall auf der Welt intervenieren, wo Unterdrückung und Gewalt herrschen. Für Regionen in unserer Nähe fühlen wir uns mehr verantwortlich als für ferne. Und in Fällen, in denen wir durch den internationalen Terrorismus bedroht sind, fühlen wir uns weit mehr herausgefordert als durch lokale Konflikte ohne größere internationale Bedeutung. Sicher wird eine Intervention auch immer die ultima ratio bleiben, da sie einen hohen Preis von der eigenen Gesellschaft verlangt, die ihre Töchter und Söhne in lebensbedrohliche Einsätze schickt. Keiner Regierung, keiner Gesellschaft und keinem Staatsbürger fällt eine derartige Entscheidung leicht.
Unsere Soldaten stehen heute nicht mehr wie frühere deutsche Heere in fremden Ländern, um für Deutschland Land oder Ressourcen zu gewinnen oder um unsere Lebensart den anderen aufzudrängen. Hier wie in anderen Konfliktfeldern, etwa in Somalia, auf dem Balkan oder jetzt in Libyen, sehen sich Regierungen und Bürger des Westens herausgefordert, unterdrückten Menschen beizustehen bei der Realisierung von Menschen- und Bürgerrechten und der Herrschaft
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