Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)
wir schätzen, lieben und auch verteidigen müssen. Es ist so bestimmend für unseren Alltag geworden, dass es – wie immer, wenn Rechte ohne Anstrengung und Opfer zu haben sind – nur selten noch die ihm gebührende Wertschätzung erfährt. Die Unterdrückten um den ganzen Erdball herum verstehen allerdings, dass die Sprache der Menschenrechte nicht die Sprache eines arroganten oder imperialistischen Westens ist, der andere Kulturen zu unterdrücken und die eigenen verbrecherischen Absichten mit ihrer Hilfe zu kaschieren sucht. Die universalen Menschenrechte entsprechen letztlich dem Wunsch aller Unterdrückten aller Epochen.
Das macht die Attraktivität der westlichen Länder für die vielen Flüchtlinge und Migranten aus. Sie kommen meist aus Staaten der politischen Vormoderne und suchen politisches Asyl im freiheitlichen Rechtsstaat und wirtschaftlichen Aufstieg im viel gescholtenen Kapitalismus. Sie kommen mit einem Lebensgefühl der Furcht und der mehltauhaften Anpassung an halbfeudale, clanmäßige, despotische, korrupte Strukturen heraus in ein Leben, in dem sie »ich« sagen dürfen, in dem sie »wir« sagen dürfen, in dem sie dieselben Rechte haben wie wir. Sie nehmen nicht nur die sozialen und politischen Möglichkeiten unseres Systems wahr, sie nehmen auch unsere Rechtsordnung weitgehend an, nutzen sie für die Sicherung ihres Lebens und erfahren so Schritt für Schritt den Vorteil einer durch die Aufklärung geprägten Politik.
In dem weiten Raum einer offenen Gesellschaft gibt es viel Platz für Verschiedenheit. Und wenn Fremde bei uns einwandern, haben sie die Freiheit, auch die Sprachen, Kulturen und Religionen, die sie aus ihren Herkunftsländern mitbringen, uneingeschränkt zu pflegen. Dabei ist im Fall der Glaubensfreiheit für mich nicht die entscheidende Frage, ob andere Religionen einen ähnlich privilegierten Status erhalten, wie ihn Protestantismus und Katholizismus in Deutschland (noch) besitzen. Entscheidender ist, ob jeder Mensch, der bei uns wohnt, im Rahmen unseres Grundgesetzes seine Religionsfreiheit ausüben kann. Das sollten wir fördern und bejahen. Dafür gibt es auch schon gute Beispiele.
Die Andersartigkeit der Zugewanderten wird umso bereitwilliger aufgenommen und als Bereicherung akzeptiert von der Mehrheitsgesellschaft, je entschiedener das Ja der Zugewanderten zur Verfassung gesprochen und gelebt wird. Ja – wir erwarten Respekt vor den rechtlichen Normen und vor den Grundwerten des Landes, in dem wir zusammenleben, ein Ja zum Grundprinzip unseres Systems: Vielheit der Ideen, Religionen, Meinungen, Pluralismus, Respekt und die Toleranz gegenüber dem anderen. »Es ist der Glaube an den Nebenmenschen und der Respekt vor dem Nebenmenschen, der unsere Zeit zur besten aller Zeiten macht, von denen wir Kenntnis haben«, urteilte Karl Popper schon 1958 gegen alle Kulturpessimisten. »Wir glauben an die Freiheit, weil wir an unsere Nebenmenschen glauben. Wir haben die Sklaverei abgeschafft. Und wir leben in der besten, weil verbesserungsfreudigsten Gesellschaftsordnung, von der wir geschichtlich Kenntnis haben.«
Popper war wie Börne jedem politischen Messianismus abhold. Beide wussten, dass Derartiges nicht in einer vollendeten Gesellschaft, sondern in der Tyrannei endet. Der späte Citoyen darf dieses Wissen teilen. Er wird sich heute und morgen und hier für zuständig erklären.
58 Joachim Gauck, »Wir müssen sehen lernen, was ist«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22. Februar 2012.
»Israel muss man wollen «
Laudatio auf David Grossman
Frankfurt am Main, 10. Oktober 2010, anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels in der Paulskirche 59
Meine Damen und Herren,
ich wünschte, wir hätten einen unter uns, den ich von hier aus herzlich grüße und den ich am liebsten auch hier begrüßt hätte. Es ist der Friedensnobelpreisträger Liu Xiaobo. 60
Mein lieber, hochverehrter David Grossman, groß ist unsere Freude darüber, dass Sie gekommen sind. Als Schriftsteller, als Institution, als Symbol der Friedensbewegung sind Sie uns und der Welt seit Langem bekannt, aber heute haben wir das Glück, dem real existierenden David Grossman zu begegnen.
Es ist eine Begegnung, die wir ersehnt haben. Denn die Preisgeber und wir, die Festgäste, so prominent und geschmückt wir auch daherkommen mögen, sind insgeheim Dürstende. Immer in der Gefahr, in den Wüsten unserer Zeit zu verschmachten, sehnen wir uns nach Menschen, deren Denken, Reden
Weitere Kostenlose Bücher