Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)
viele lieber dorthin gegangen. So kamen sie in das Land zweiter Wahl, doch sie kamen. Das verstreute und dezimierte jüdische Volk wurde in der neuen Staatlichkeit zu einem WIR .
Wir alle brauchen so ein WIR : die Familie, den Ort, die Sprache, Kultur, Religion, Nation, den Staat, all das, was uns mit den Unseren verbindet und umso mehr Sicherheit verströmt, je ungefährdeter es ist. Diesem WIR sind wir verhaftet, wir mögen es verleugnen, verdrängen oder relativieren, aber was jeder Einzelne wird, ist schicksalhaft mit diesem WIR verbunden.
»Wir haben zweitausend Jahre auf diese Stunde gewartet«, sagte David Ben-Gurion in seiner Rede am 14. Mai 1948 bei Israels Staatsgründung, »und nun ist es geschehen.« Doch der endlich realisierte zionistische Traum war von der ersten Stunde an bedroht.
Seitdem steht das jüdische Volk in einem Kampf auf Leben und Tod: Wir oder sie? Werden wir ständig kämpfen müssen, um unser Existenzrecht zu sichern, oder wird es gelingen, eine Heimat zu schaffen, die mehr ist als Zuflucht und Festung?
»Wenn mein Land angegriffen wird«, las ich kürzlich in einem Interview mit einem israelischen Psychologen, »muss ich mich verteidigen, rechtfertigen, kämpfen und kann mich selbst nicht mehr kritisch betrachten.« Israel sucht nach einem Nebeneinander und Miteinander von Völkern – und ist trotzdem mit der Frage von Schuld und Zumutbarkeit gegenüber den anderen und der Frage der Loyalität gegenüber den eigenen konfrontiert: Bin ich nicht zur bedingungslosen Loyalität gegenüber meinem Staat verpflichtet, weil ich sonst mit ihm untergehe? Muss ich meine Söhne und Töchter in den Krieg ziehen lassen, selbst wenn es ein Krieg ist, den eine Regierung mit Mitteln führt, die ich nicht billige?
Als Avram, einer der beiden Hauptprotagonisten in David Grossmans letztem Roman Eine Frau flieht vor einer Nachricht, mit zerschundenem Körper, mit Prellungen, Quetschungen, Brüchen und Verbrennungen aus einem ägyptischem Gefängnis zurückkehrt, ist eine seiner ersten Fragen, als er aus einem komaähnlichen Zustand aufwacht: »Gibt es, gibt es noch … Israel?« Und seiner Freundin Ora wurde der Mund trocken: »Dachtest du, dass nicht? Alles ist, wie es war, Avram, hast du gedacht, wir seien schon …«
An der schmalsten Stelle ist Israel fünfzehn Kilometer breit. Es zählt nur einige wenige Millionen Einwohner. Israel ist nicht England und nicht Amerika. Israel, sagt Grossman, muss man wollen , wenn es bestehen soll. Doch Grossmans Loyalität ist keine kritiklose Unterordnung. Er und andere Intellektuelle in Israel zeigen, dass neben Solidarität Meinungsfreiheit, Disput, Demokratie und Recht erst den Staat ausmachen, der als verteidigenswert gilt. Für sie gilt, was Carl Schurz zugeschrieben wird, dem deutschen Revolutionär, der nach der Niederschlagung des Badischen Aufstands 1848/49 nach Amerika auswanderte und dort als freier Mann eine politische Karriere machte: »My country, right or wrong. If right – to be kept right; and if wrong – to be set right.« Es ist mein Land. Handelt es richtig, muss es auf dem richtigen Pfad gehalten werden. Handelt es falsch, muss es auf den richtigen Pfad gebracht werden.
Loyalität und Kritik sind keine Gegensätze, recht verstandene Loyalität und Kritik bedingen einander. Doch wäre es nur so einfach, wie es sich spricht!
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David Grossman hat seinen ersten Sohn Jonathan in den Militärdienst ziehen lassen. David Grossman hat seinen zweiten Sohn Uri in den Militärdienst ziehen lassen. Uri war in den besetzten Gebieten eingesetzt, bei Patrouillen, in Hinterhalten, an den Checkpoints, im zweiten Libanon-Krieg. »Ich hatte damals das Gefühl oder, genauer gesagt, die Hoffnung«, erklärte Grossman später, »dass das Buch, das ich schreibe, ihn schützen wird.« Als könne er den Sohn am Leben erhalten, wenn er – wie Ora, die Mutter des jungen Soldaten im letzten Roman – pausenlos über ihn rede. Als könne er den Tod bannen, wenn er sich der Bedrohung offen stelle.
Wenige Stunden bevor der zweite Libanon-Krieg 2006 zu Ende ging, kam Uri Grossman um. Sein Panzer wurde von einer Rakete getroffen. »Wenn einem so etwas passiert, will man Vergeltung, man hasst, ist verletzt, die ganze Gefühlspalette«, sagte Vater David. Aber dann spürte er, dass »immer wenn ich dem Hass nachgab, ich mich meinem Sohn Uri nicht mehr nahe fühlte«.
Israel muss man wollen , aber auf eine Weise, die nicht mit Hass verbunden ist. Denn wenn die Politik
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