Nicht die Bohne!
vielen Tagen Krankschreibungen, um mich an den Zustand des Schwangerseins zu gewöhnen und aufgrund meiner schwierigen persönlichen Verhältnisse, wie Dr. Ganter es ausdrückte –, muss ich wieder heulen. Ich bin schwanger und lebe in schwierigen persönlichen Verhältnissen. Das ist so furchtbar, dass auf das Kotzen erst mal zehn Minuten ungehemmter Tränenfluss folgen.
Völlig verrotzt rufe ich danach meinen Chef an, um ihm mitzuteilen, dass die fleißige Arbeitsbiene immer noch krank ist. Er ist not amused , und da er nicht fragt, was ich habe, erzähle ich es von mir aus: nämlich einen schweren Magen-Darm-Infekt. So, basta! Leider zeigt er sich ungerührt und erklärt mir, ich solle bloß dafür sorgen, dass alles läuft. Aha. Ich vermute mal, dass er mit »allem« seine wichtigen Unterlagen und Termine meint, die in dieser Woche anstehen. Also rufe ich Brigitte an, um sie mit weiterer Zusatzarbeit zu erfreuen. Wenigstens sie wünscht mir gute Besserung.
Kurz danach steht Olaf vor meiner Tür. Sein Gesicht spricht Bände. Vermutlich hat er sich in der vergangenen Nacht näher mit den Konsequenzen des Bohnen-Projekts befasst. Er sieht fast so schlecht aus wie ich, und das will was heißen. Meine immer noch fast grüne Gesichtsfarbe ist eigentlich nicht zu toppen.
Er setzt sich an meinen Esstisch und fragt: »Wie soll das denn jetzt laufen?«
Aha, wieder soll was laufen, und ich soll wissen, wie es laufen soll. Warum eigentlich immer ich? Also antworte ich wahrheitsgemäß: »Keine Ahnung!«, und lächle ihn freundlich an.
»Paula. Wir bekommen ein Kind. Du solltest dir da ein paar Gedanken drüber gemacht haben.« Vorwurfsvoll schaut er mich an. Dieser Gesichtsausdruck ist eine echte Olaf-Spezialität. Leicht vorwurfsvoll gewürzt mit einer Prise Überheblichkeit. Wie kann die dumme Paula nur nicht wissen, wie es jetzt weitergeht? Er beugt sich zu mir.
»Ein Kind zu bekommen ist eine große Verantwortung, Paula.« Er spricht sehr langsam und akzentuiert, als wäre ich leicht debil.
»Tatsächlich?«, frage ich erstaunt zurück. »Das ist mir neu.«
»Jetzt mal im Ernst. Wie machen wir das jetzt?«
»Also«, setze ich an, ihn über meine unausgegorenen Umsetzungspläne in Kenntnis zu setzen. »Ich werde ab sofort immer dicker. Vorausgesetzt, ich höre mit der Kotzerei auf. Das ist vermutlich kontraproduktiv, was das Speckansetzen angeht. Dann werde ich dieses Kind bekommen und für ein paar Wochen zu Hause bleiben. Und dann wirst du in Elternzeit gehen und die Brutpflege übernehmen. Immerhin arbeitest du ja von zu Hause aus. Ideal also!« Fröhlich lächle ich ihn an, während Olaf langsam Schweißperlen auf die Stirn treten. »Ich bin ja nicht alleine damit«, raune ich in verschwörerischem Ton und deute dabei auf meinen Unterleib.
Eine halbe Stunde später verabschiedet Olaf sich. Er ist verwirrt, was nicht weiter schlimm ist. Ich bin auch verwirrt. Und wenn ich mich in diesem Zustand befinde, rufe ich üblicherweise meinen Bruder Tom an.
Tom war schon immer anders als die anderen Kinder. Das hat sich bis heute nicht geändert. Während Andrea und ich durchaus als liebreizende Persönlichkeiten durchgehen – solange wir den Mund halten –, sieht man Tom seine Andersartigkeit schon einen Kilometer gegen den Wind an. Er ist sehr groß, größer als unsere Eltern – die Frage, ob er wirklich mit uns verwandt ist, konnte noch nicht abschließend geklärt werden. Dazu trägt er niemals Haare auf dem Kopf und hat ein Gesicht, das zwar durchaus als attraktiv durchgeht, aber eigentlich mehr nach Pitbull-Besitzer aussieht. Das liegt sicher auch daran, dass seine Nase ein wenig krumm ist, weil er sich in der Vergangenheit gern mal geprügelt hat. Außerdem ist er wirklich seltsam. Das können selbst wir als seine unmittelbaren Verwandten nicht verleugnen. Meine Eltern haben extra für ihn ein spezielles Eltern-Mantra entwickelt: »Wir lieben dich so, wie du bist, und nicht so, wie wir dich haben wollen.«
Tom hat dieses Mantra bis aufs Äußerste strapaziert, und ich bin mir sicher, dass meine Eltern von seinem zehnten Geburtstag an heimlich die Tage gezählt haben, bis er endlich alt genug wäre, um auszuziehen. Ab seinem vierzehnten Geburtstag ist er ohne Androhung schlimmer Dinge nicht mehr freiwillig vor zwölf Uhr mittags aufgestanden, trug zeitweise einen lilafarbenen Irokesenschnitt und beherbergte eine Ratte mit Namen Helmut in seinem Kapuzenshirt. Er hat auch schon mal drei Wochen in seinem
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