Nicht die Bohne!
sich. Während ich sorgfältig »Einkaufsliste« auf den leeren Zettel schreibe, wird mir bewusst, dass ich jetzt keine fleißige Arbeitsbiene mehr bin, und ich muss weinen. Und das nicht nur ein bisschen, nein, niagaramäßig muss ich heulen. Was ist denn verdammt noch mal mit mir los! Offenbar hat der Besuch bei meinen Eltern der Realitätsimmunität tatsächlich wie erwartet ein Ende bereitet.
Obwohl meine Stirn am Lenkrad lehnt und ich bereits nach zwei Minuten einen erhöhten Wasserstand im Fußraum zu vermelden habe, entgeht mir nicht, dass die Mini-Tür hinter mir sich öffnet. Kurz darauf klopft der Popler an mein Fenster. Vermutlich möchte er mir seinen Beistand anbieten. Ich sollte beginnen, mich zusammenzureißen.
Aber ich kann nicht aufhören zu heulen. Es ist dramatisch, ich mache sogar tiefe Schluchzgeräusche, die sich in der Stille des Wagens nahezu nach Weltende anhören. Was ist denn verdammt noch mal mit mir los!
Der Popler klopft erneut zaghaft an meine Scheibe. Ich hebe zaghaft den Blick. Der Popler ist sehr moppelig, hat dafür aber traumhaft wallendes Haar in kastanienbraun und klopft jetzt erneut. Ich drücke den Fensterheber, surrend fährt die Seitenscheibe runter und ein Schwall kalter Luft schwappt ins Auto.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragt der Popler, und in seiner warmen Stimme schwingt so viel Mitgefühl mit, dass ich umgehend mit den tiefen Schluchzgeräuschen weitermache.
»Oh Gott, brauchen Sie einen Arzt?« Der Popler hat hübsche braune Augen und reißt diese jetzt entsetzt auf. Aber einen Arzt brauche ich nun wirklich nicht. Also schüttle ich nur den Kopf, und im selben Moment springt das rote Licht auf grün um. Was wohl bedeutet, dass die Garagenüberfüllung beendet ist.
Und weil ich nicht augenblicklich mit quietschenden Reifen lospresche, ertönt ein heftiges Hupen aus allen wartenden Fahrzeugen hinter mir. Keine Geduld, die Menschen. Dieser Mann ist doch zu meiner Rettung geeilt. Immerhin der erste in den vergangenen Wochen – und plötzlich möchte ich mir ganz dringend helfen lassen. Exorbitant dringend. Und so höre ich schlagartig mit dem Heulen auf und sage mit verrotzter Stimme: »Das ist so nett, dass Sie fragen.«
Das Hupen bekommt derweil eine interessante Asynchronität, aber der Popler zeigt sich unbeeindruckt und sagt mit seiner freundlichen Stimme: »Ich lade Sie auf einen Kaffee ein, was halten Sie davon? Hier unten gibt es doch dieses kleine Café, das ist nett. Und ich will Sie auch nicht anbaggern. Obwohl Sie sehr hübsch sind. Ich bin schwul. Aber ich kann sehr gut zuhören!« Spricht’s und hüpft nur Sekunden später in seinen Mini. Wow, wie nett. Und die Zusicherung, dass er mich nicht anbaggern will, zeugt ja von einem phänomenalen Frauenverständnis. Und dann auch noch die Aussage, ich sei hübsch.
Zügig husche ich mit meinem Golf durch die Schranke und suche nach einem freien Parkplatz. Finde ihn, manövriere mein Auto geschickt hinein – ich kann phänomenal gut einparken –, klappe die Sonnenblende herunter und den Deckel des kleinen Schminkspiegels nach oben.
Okay, er hat gelogen. Ich sehe scheiße aus, meilenweit entfernt von hübsch oder auch nur ansatzweise akzeptabel. Mein Mascara hat dem Tränensturm nicht standgehalten, und ich habe jetzt einen Waschbären-Look. Meine Wangen sind rot gesprenkelt – warum auch immer –, und meine Nase leuchtet wie die von Rudi dem Rentier. Außerdem sind meine Augen nicht mehr blau, sondern blutunterlaufen, und meine hellbraunen Locken stehen wirr in alle Richtungen ab. Um es mal auf den Punkt zu bringen: Würde ich mir selbst im Aufzug begegnen, ich würde peinlich berührt zur Seite schauen.
Dennoch mache ich mich auf den Weg zu dem kleinen Café im Erdgeschoss des Shopping-Centers, vorbei an Pappweihnachtsmännern, glänzenden Rauschgoldengeln, und begleitet von den üblichen musikalischen Weihnachtsklassikern, die sanft im Hintergrund vor sich hin plätschern.
Dort angekommen, setze ich mich möglichst weit weg von allen anderen Besuchern, aber doch noch so sichtbar, dass der Popler mich auch findet. Da er es geschafft hat, die Schranke direkt nach mir zu passieren, müsste er jeden Moment auftauchen. Ich bestelle mir einen Kamillentee – Teufelszeug, aber irgendwie steht mir der Sinn danach –, lausche der weihnachtlichen Dauerbeschallung, starre auf den kleinen dicken Weihnachtsmann, der die Tischdeko in diesem Café darstellt, und warte.
Was will ich mit diesem fremden,
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