Nicht die Welt (German Edition)
Platz bringen sollte. Gleich hinter der Endhaltestelle überquerte die Hochbahn den Fluss. Die mit Backsteintürmchen versehene Brücke schien benutzbar zu sein. Möglicherweise wäre es besser gewesen, sie hätten das Spaltungswerk hier am Fluss gebaut und nicht an der breiten Ausfallstraße, dachte er. Es konnte durchaus sein, dass eine unzureichende Kühlung der Auslöser für die Explosion gewesen war, denn die neueren, mit riesigen Kühltürmen versehenen Spaltungswerke lagen unmittelbar am Fluss. Erschwerend kam hinzu, dass die Kuppel mitten in der Stadt errichtet worden war, während sich die modernen Spaltungswerke weit außerhalb von Neustadt oder unmittelbar an den Grenzen des Landes befanden, um bei einem Angriff des Feindes eine natürliche Verteidigung zu bilden. Voller Vertrauen ließen die Menschen damals die neue Technik zu nahe an ihre Wohnungen heran, hatten die Spaltungsfernraketen ihnen im Krieg doch den Sieg gebracht.
Unversehens blieb er auf der Brücke stehen. Er war mitten in der Stadt und doch entfernt von ihr, über ihr. Eine angenehme Stille umgab ihn. Auf dem Schotter der Hochbahn wuchs das Grün und vereinzelt zeigten sich schon kleine Bäumchen. Mit den Unterarmen lehnte er sich auf das Geländer der Brücke. Einige verrostete Schiffe lagen halb untergegangen am Ufer, das dicht mit Bäumen und Sträuchern bewachsen war. Langsam, ganz langsam schien sich das Wasser von ihm weg zu bewegen. Es war klar, fast schien es, als könne man bis auf den Grund sehen. Fische kamen immer wieder kurz an die Oberfläche. Die Sonne stand glutrot am Horizont. Einige Vögel kreisten in der Luft, der Wind verfing sich auf seinem Schutzanzug, fast glaubte er, ihn auf seiner Haut spüren zu können. Leider konnte er diesen Augenblick mit niemandem teilen. Doch möglicherweise wäre die Magie verloren gegangen, hätte er seine Gefühle in Worte gekleidet. So wie ein Wunsch, der im Anblick einer Sternschnuppe unausgesprochen bleiben muss, um in Erfüllung zu gehen. Vielleicht war dieser Augenblick nur für ihn bestimmt. Lange verharrte er so und sah dem Sonnenuntergang zu. Längst hatte er sich dazu entschlossen, nicht weiterzugehen und die Nacht auf der Brücke im Freien zu verbringen. Auf mehreren unbenutzten Bahnschwellen, die vor einem kleinen Backsteintürmchen lagen, legte er sich zur Ruhe. Morgen muss ich um diese Zeit wieder bei der Kuppel sein, dachte er.
In der Nacht schrak er auf. Hunderte von Stechmücken umschwirrten ihn. Die Mücken hatten die Schwachstellen seines Anzugs ausgenutzt und ihn an den Stellen gestochen, die nicht abgedeckt waren. Er rückte die Gesichtsmaske zurecht und zog seine Hände unter die Ärmel zurück. Über ihm leuchteten die Sterne am Himmel und der Mond schien hell. Ein schrecklicher Albtraum beschäftigte ihn. Große transparente Spinnenwesen mit langen, dünnen Beinen lebten in seiner Wohnung. Nachts kamen sie von der Decke und saugten über lange Rüssel Lebensenergie aus seinem Kopf. Ihrer Anwesenheit war er sich zwar bewusst, doch sehen konnte er sie nur, wenn er seinen Kopf wie wild schüttelte. Es ist wohl besser, in dieser Stadt nicht zu schlafen und zu träumen, dachte er. Er richtete sich ein wenig auf, schlief aber kurze Zeit später vor Erschöpfung wieder ein.
Am nächsten Morgen wurde er unsanft geweckt. Etwas stieß ihn an. Als er hochsprang, sah er ein Wildschwein, welches – erschrocken von der unerwarteten Bewegung – das Weite suchte. Eine ganze Rotte folgte ihm. Erstaunlich, dass sie sich auch hier oben hin zurückziehen, dachte er. Auf den Bahnschwellen bewegten sie sich bemerkenswert sicher, der Schotter schien sie nicht zu stören. Er schulterte seinen Rucksack, nahm den Elektrostock, der sich bestens als Wanderhilfe bewährt hatte, und brach auf. Die Stadt wirkte ruhig und friedlich, als die Morgensonne die verfallenen Häuser am Ufer in ein warmes Licht tauchte. Plötzlich blieb er stehen und betrachtete das Haus auf der rechten Seite. War das ein Schatten im Fenster?, fragte er sich. Eine ganze Zeit lang beobachtete er das Haus, konnte aber nichts Auffälliges mehr entdecken.
An der nächsten Haltestelle der Hochbahn setzte er sich in den Wartebereich und holte die letzte Wasserflasche aus seinem Rucksack. Gierig trank er den Rest, der sich noch darin befand. Vielleicht sollte ich meine Flasche am Fluss auffüllen? Die Strahlung muss doch nach all den Jahren herausgespült worden sein, überlegte er. Eine andere Möglichkeit
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