Nicht die Welt (German Edition)
im Bunker, um sich um ihre Versorgung und Erziehung zu kümmern. Die medizinische Betreuung ist natürlich auch gewährleistet, schließlich haben wir Ärzte in unseren Reihen. Elektriker und Mechaniker kümmern sich außerdem um die Instandhaltung des Bunkers.«
»Eure Kinder leben die ganze Zeit im Bunker? Und ihr seht sie erst wieder, wenn sie rauskommen?«, fragte der junge Mann ungläubig.
»Nein, nein. Wir haben ja eine Schleuse. Einmal im Jahr können wir sie besuchen.«
»Warum schickt ihr sie nicht gleich nach Neustadt?«
»Nach Neustadt? Das ist nicht möglich. Wir haben unsere eigenen Regeln, nach denen wir leben wollen. Hier sind wir frei. Und außerdem: Wo ist ein Kind sicherer als tief unter einer kontaminierten Stadt?«
»Aber in Neustadt gibt es doch auch viele Freiheiten. Wir haben die Digitalwelt. Dort gibt es keine Einschränkungen.«
»Eure Neuwelt ist nicht real. Wir sind hier, um eine neue Gesellschaft aufzubauen. Auf den Ruinen der Alten Ordnung, immer vor Augen, wie Menschen nicht miteinander umgehen sollten. Niemals vergessen, was passiert, wenn Menschlichkeit als wertlos angesehen wird.«
»Aber all der Schrecken hier in den Straßen ...«
»Wahre Schönheit kannst du nur an einem Ort des Verfalls spüren. Du wirst überwältigt vom Leben in dieser harten und grausamen Welt, die nur die Liebe und die Güte kennt, die du ihr schenkst und den Gott, den du in dir trägst.«
»Wie aber ... wie aber kannst du das hier mit Gott vereinbaren?«
»Das muss ich nicht. Ich wende mich an Gott nur in Dankbarkeit, nicht im Zorn.« Der junge Mann wusste über religiöse Angelegenheiten nur sehr wenig. In der Alten Ordnung hatte der Glaube keine Rolle gespielt und später, als es möglich gewesen wäre, hatte er sich nicht dafür interessiert. Etwas verlegen fragte er deshalb: »Seid ihr Anhänger des Buches?«
»Mein Lieber, Bücher kommen und gehen, wir sind Anhänger des Lebens. Daran glauben wir.«
»Aber ist dies hier nicht eine Kirche?«
»Es ist nur ein Gebäude, es hat keinerlei Bedeutung, der Mensch ist alles«, entgegnete der Priester und lächelte.
Liebe und Güte. Der junge Mann musste an die Worte des Priesters denken. »Ist hier vor kurzem vielleicht eine junge Frau aufgetaucht?«
»Ja, eine Frau war gestern hier, hat ihren Bruder gesucht«, sagte der Priester.
»Ging es ihr gut?«
»Ja, wenn ich mich recht erinnere, hatte sie nur einen Verband am Arm.«
Der junge Mann atmete tief durch. Das Gefühl vollkommenen Glücks erfüllte ihn. »Wo ist sie hingegangen?«, fragte er ungeduldig. Das freundliche Gesicht des Priesters wurde nun ernster, und er sagte mit fester Stimme: »Das kann ich dir nicht sagen, denn ich weiß nichts über deine Absichten. Du sagtest, dass du dich in der Kleidung eines Säuberers hier hast einschleusen lassen. Das kann ich nicht überprüfen. Und wenn du nicht ihr Bruder bist, sucht sie nicht nach dir.«
»Ich muss aber wissen, wo sie ist. Wir wurden getrennt, und ich habe mir Vorwürfe gemacht, weil ich nicht auf sie aufgepasst habe«, sagte der junge Mann und umklammerte seinen Stock.
»Ist das alles, was ich wissen sollte?«, fragte der Priester.
»Ich ... eigentlich bin ich auf der Suche nach dem Papier, ach, ich weiß auch nicht mehr, was ich hier überhaupt mache.« Der Priester lächelte und legte einen Arm auf seine Schulter: »Wichtig ist, dass unsere Absichten reinen Herzens sind. Das ist alles, was zählt. Die junge Frau ist die Hochbahn entlang nach Westen zu unserem Schutzbunker am Runden Platz gegangen. Warte, ich werde dir aufzeichnen, wo sich der Zugang befindet. Außerdem stelle ich dir einen Brief aus, damit dir die Menschen dort helfen werden, das Papier zu finden.« Der junge Mann ergriff die Hände des Priesters und bedankte sich herzlich. »Eine Sache noch: Ich gebe dir noch die Parole, die du brauchst, um in den Bunker zu kommen«, fügte der Priester hinzu. Nachdem sich der junge Mann noch etwas auf der Kirchenbank ausgeruht hatte, verabschiedete er sich vom Priester und verließ mit gut gefüllten Wasserflaschen die Kirche.
Als er das Freie betrat, stellte er fest, dass er viel zu viel Zeit in der Kirche verloren hatte. Die Sonne stand schon tief am Horizont. Vor Einbruch der Nacht musste er unbedingt den Runden Platz erreicht haben, um noch den Eingang zum Bunker finden zu können. Die Hochbahn folgte weiterhin dem Verlauf des alten Kanals, der fast vollständig mit Schilf und Wasserpflanzen zugewachsen war.
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