Nicht ganz schlechte Menschen
Zimmer im ersten Stock konnten, wenn auch zum reduzierten Preis, vermietet
werden, während im zweiten der Umbau in vollem Gange war. Und umgekehrt. Das
neue Monbijou würde, wenn alles weiterhin so glatt lief, Mitte April eingeweiht werden, mit
einem Fest. Pierre, der an Einzelheiten nicht interessiert war, stellte
zweitausend Francs zur Verfügung, einfach so, ohne zu wissen, wofür genau.
Anfang
April erkundigte sich Karl, was ein Anruf nach Paris denn kosten würde. Jemand
war gekommen, um die überfällige Miete für Ines’ Wohnung einzutreiben. Die
Hoffnung, daß es sich um Wohneigentum handelte, erfüllte sich nicht. Eine schon
ältere Frau mit einer haarigen Warze auf der Unterlippe sagte ihm, daß die
Minute mit zehn Peseten berechnet werde. Er müsse das Gespräch anmelden
und für den Zensor ein Formular ausfüllen.
Für den – was?
Den Zensor. In welcher Sprache wollen Sie das Telefonat führen?
In Deutsch.
Dann müssen Sie sich mit einem Zensor verabreden, der Deutsch
beherrscht.
Französisch ginge auch, oder Englisch. Konzedierte Karl.
Warum nicht Spanisch?
Das spricht außerhalb Spaniens fast niemand in Europa.
Ach? Naja, viel Glück.
Es stellte sich heraus, daß die Wartezeit oft bis zu sechs Stunden
betrug, bevor eine Verbindung zustande kam. Karl mußte auf dem Formular
angeben, wen er antelefonieren wollte und warum. Der Zensor, meist ein
politischer Kommissar der PSUC , würde während des
Gesprächs neben ihm sitzen und zuhören. Es durfte nicht über die politische
Lage in Spanien allgemein und insbesondere in Barcelona geredet werden.
Politische Lage war dabei ein sehr
vieldeutiger Begriff. Falls der Zensor den Verdacht hegte, es würden politische
Sachverhalte über einen Code mitgeteilt, unterbrach er die Leitung. Für Karl
als Parteigenossen galt eine gewisse Vorzugsbehandlung. Er meldete das Gespräch
nach Paris um dreizehn Uhr an, und keine zweieinhalb Stunden später kam es
zustande. Zu seinem Glück war ein Offizier vorhanden, der gut deutsch wie auch
einigermaßen französisch sprach. Vielleicht, ja wahrscheinlich sogar würde
beides vonnöten sein. Und das war es dann auch. Es meldete sich Xavier Chapelle
an der Rezeption des Monbijou . Karl nannte seinen
Namen und fragte auf französisch nach seinem Bruder. Er bat um Eile, denn dies
sei ein sehr teures Gespräch aus dem Ausland. Chapelle brummelte etwas von, er
sehe nach, ob Monsieur Max auf seinem Zimmer sei, Moment bitte.
Was macht Ihr Bruder in Paris?
Der Zensor war ein ganz sympathisch wirkender junger
Schnauzbartträger, blond mit blauen Augen und Sommersprossen, er nutzte die
entstandene Stille, um das seiner Meinung nach vage formulierte
Gesprächsprotokoll mit neuen Details zu versehen, mehr aus Langeweile denn aus
Ordnungssucht oder gar Anteilnahme. Karl registrierte erfreut, daß er gesiezt
wurde. Die Zeit, in der jeder mit jedem auf du war, ging zu Ende.
Er ist Student.
Was studiert er denn?
Philosophie.
Aha.
Die Minuten vergingen. Vier, vielleicht fünf, gefühlte zehn. Dann
endlich meldete sich Max am anderen Ende der Leitung. Er hatte nur ein Zimmer
entfernt im Direktionsbüro gesessen, aber Chapelle hatte sich auf das Stichwort Ausland hin etwas Zeit gegönnt, aus purer Unleidlichkeit.
Hallo? Karl, bist du das?
Ja, hör zu. Fass dich kurz, jede Minute kostet mich zehn Peseten.
Sag mir, wie es kommt, daß ihr ins Hotel gezogen seid. Geht es euch gut?
Das ist eine lange Geschichte.
Ach, nein, bitte, keine langen Geschichten. Sei so konzis wie
möglich.
Was bedeutet konzis ? Der Zensor sah verstört auf.
Soviel wie knapp, kurz angebunden.
Mit wem redest du da?
Der Zensor hat mich etwas gefragt, hier wird mitgehört,
Entschuldigung.
Keine Angaben über Politik! Zischte der Zensor. Noch einmal so etwas
und ich kappe das Gespräch! Sofort.
Aber – Karl schwieg entgeistert.
Hallo? Bist du noch dran? Also, in Kürze: wir haben einen
Hotelbesitzer kennengelernt und hatten die Ehre, sein Hotel renovieren zu
dürfen, also die Renovierung zu überwachen, bald wird die Bude mit einem
Festakt neu eröffnet. Und du? Brauchst du Geld?
Kann ich immer brauchen. Wenn ihr es erübrigen könnt. Ich studiere
Medizin, sobald ich Arzt bin, zahle ich alles zurück, selbstverständlich.
Medizin? Du? Ich dachte, du kannst kein Blut sehen?
Ich habe mich daran gewöhnt, hier in Barcelona –
Gerade noch rechtzeitig gestaltete Karl den Satz um, wurde er doch
des grimmigen Gesichtsausdrucks des Zensors
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