Nicht ganz schlechte Menschen
Kämpfen bei Guadalajara im März und April errangen die republikanischen
Truppen einen wichtigen Sieg, als Francos Durchbruch an der Front bereits
unmittelbar bevorzustehen schien. Eine große Rolle spielten dabei die
Internationalen Brigaden Thälmann, Edgar André und Commune de Paris , die dem italienischen
Freiwilligenkorps Verluste von mehr als sechstausend Mann zufügten. Die
Regierung war zuvor wegen des drohenden Falls von Madrid nach Valencia
umgezogen, was im Nachhinein einem voreiligen und unnötigen
Eingeständnis der
Niederlage gleichkam. Karl mißbilligte im Gespräch mit Mila jenen Umzug denn
auch als sehr bedauerlichen, weil propagandistisch verheerend wirkenden Akt
individueller Feigheit. Nun konnte die Hauptstadt überraschenderweise gehalten
werden, der Kriegsausgang schien wieder offen. Eine kleine Hoffnung verwandelte
sich in sehr viel Zuversicht. Die Lügenfresser feierten in der
Nachtkantine des PSUC -Hauptquartiers. Die Regierung aber blieb in
Valencia, kehrte nicht nach Madrid zurück. Karl schüttelte darüber den Kopf. Am
26. April wurde die Stadt Guernica durch Flugzeuge der Legion Condor, einer
verdeckt operierenden Einheit der deutschen Wehrmacht, in Schutt und Asche gelegt.
Die strategisch sinnlose Aktion mit dreihundert toten Zivilisten deutete man
als Fanal der Wut, als wohl von Hitler persönlich befohlenes Zeichen, den Krieg
mit jedem denkbaren Mittel zum siegreichen Ende zu bringen.
Die Weltpresse tobt , schrieb Goebbels in
sein Tagebuch.
Die
Verhältnisse in Barcelona wirkten inzwischen auf viele Menschen bedrückend bis
kaum noch erträglich. In langen Schlangen stand man um Lebensmittel an, es
mangelte an beinahe allem, bis auf Orangen, Sardinen und Olivenöl. Milch und
Fleisch gab es nicht, Brot war sehr knapp. Die Anarchisten gaben der Regierung
die Schuld und hetzten mit Flugblättern. Die Spannungen zwischen ihnen und den
Kommunisten schienen kurz vor dem Siedepunkt, es war deutlich spürbar, daß es
bald zu einem mit Gewalt ausgetragenen Konflikt kommen würde. Die Regierung
wiederum hetzte gegen die Anarchisten, beschuldigte sie, dringend an der Front
benötigte Waffen in ihren Arsenalen zu bunkern und so die
Verteidigungsfähigkeit der Republik zu untergraben. Die Zeitungen
wimmelten von Pamphleten
und Haßtiraden. Jede der linken Gruppierungen beschuldigte die jeweils anderen
der Sabotage oder Unfähigkeit. Barcelona glich einem Pulverfaß. Karl und Mila
jedoch lebten in ihrer Liebe wie in einer behüteten Blase. Sie standen beide in
Diensten der momentan mächtigsten Partei, hatten jede Nacht etwas zu essen und
profitierten überdies von der einstigen Vorausschau Ines Rodrigos, die in ihrer
Wohnung, auf dem Boden ihres Kleiderschranks, einen ansehnlichen Vorrat an Reis
und Nudeln gehortet hatte, jeweils zwanzig Kilo. Karl und Mila würden viele
Wochen von diesem Vorrat existieren können, ohne zwischendurch nur einmal
zwingend das Wort Hunger im Mund führen zu müssen. Eine wenn auch geringe Auswirkung
der Not bestand für Karl darin, daß das Ehepaar Rosario sich außerstande sah,
ihn zu bezahlen. Karl indes bestand darauf, Sebastián weiterhin zu
unterrichten. Zum einen war ihm der Junge ans Herz gewachsen, zum anderen lag
ihm an der Dankbarkeit der Familie. Er zog in Erwägung, daß diese irgendwann
von Wert sein könnte. Keinen Moment zog er hingegen in Betracht, daß die
Geldknappheit der Rosarios vielleicht nur ein Vorwand wäre, um ihn, den
Kommunisten, loszuwerden. Tatsächlich lag die Wahrheit irgendwo in der Mitte.
Seit Karl in die PSUC eingetreten war und er dies den Rosarios mehr
versehentlich mitgeteilt hatte (er ließ sich über den schwer im Magen liegenden
Fraß der Nachtkantine aus), war sich das bürgerliche Ehepaar uneins darüber, ob
es zu Karl auf Distanz gehen solle oder ob es vielmehr sogar ganz gut sei,
jemanden wie ihn zu kennen. In jedem Fall hatten sich die Rosarios dafür
entschieden, ihm vorsorglich mitzuteilen, daß kein Geld mehr im Haus sei.
Sicher ist sicher. Karls Angebot, Sebastián kostenlos Stunden zu geben,
beschämte sie dann, einerseits – andererseits keimte in ihnen der Gedanke, der
junge Deutsche könne im Auftrag der KP auf sie angesetzt worden
sein. Die Atmosphäre des allgemeinen Mißtrauens in der Stadt nährte allerlei
paranoide Ideen. Karl erinnerte sich an einen Satz von Lenin: Wenn eine
Gesellschaft nicht mehr träumen kann, wird sie wahnsinnig.
Max und Ellie debattierten in der Nacht vom 2. auf den 3. Mai lange
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