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Nicht ganz schlechte Menschen

Nicht ganz schlechte Menschen

Titel: Nicht ganz schlechte Menschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Krausser
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zunehmenden
Orientierungslosigkeit abzulenken, etwas
Sinnvolles tun, irgend etwas. Noch zwei Wochen lang bemühte er sich darum, mehr
über das Schicksal Milas zu erfahren, bis ihn der Teniente im Colón beiseite nahm und meinte, es gebe anscheinend
triftige Gründe, dies künftig bleiben zu lassen. Genauer könne und wolle er
sich dazu nicht äußern.
    Karl nahm den Ratschlag mehr als Drohung denn als Empfehlung wahr.
Am Abend noch telegrafierte er an seinen Bruder in Paris und äußerte die Bitte,
Max solle ihm einen Pass besorgen, er wolle diesem wahnwitzigen Inferno den
Rücken kehren.
    Auf der Pariser Weltausstellung wurde, am 12. Juli, doch
noch ein spanischer Pavillon eröffnet. In der Eingangshalle hing das
großformatige Gemälde GUERNICA von Pablo Picasso.
Max war über alle Maßen begeistert. Nun habe die Bombardierung der Stadt spät
noch ihren Sinn offenbart. Er meinte das nicht völlig ernst, ganz unernst aber
auch nicht. Er wußte nicht immer sofort, wie er zu dem stehen sollte, was er
soeben gesagt hatte.
    Am Abend erhielt er Karls Telegramm, wobei er noch unter der Wirkung
des Gemäldes stand. Max stellte sich unter wahnwitziges Inferno alles
mögliche vor. Grausame Skizzen von Goya fielen ihm ein. Seine Phantasie erschuf
apokalyptische Bilder, inmitten derer Karl mit letzter Kraft ums blanke
Überleben kämpfte. Deshalb zögerte er auch keine Sekunde, die einzig erfolgversprechende
Verbindung zu nutzen, durch die Karl eventuell einen Paß bekommen konnte, und
wenn schon keinen echten Paß, dann eine behördliche Einreiseerlaubnis, die eine
Abschiebung nach Deutschland verhinderte. Er nahm Kontakt zum Marquis de
Paulignac auf. Was sich als gar nicht einfach erwies, denn der Marquis war nach
einem Schlaganfall an einen Rollstuhl gefesselt und nahm am gesellschaftlichen
Leben nur noch eingeschränkt teil. Seine Frau und seine Töchter kontrollierten
ihn, mißgönnten ihm jeden Umgang mit verdächtigen Subjekten. Max wurde von
ihnen abgewiesen, obwohl er insistierte, es sei wichtig. Zum Glück war Sommer,
ein heißer Sommer, und die Tür zum Schlafzimmer des Marquis, er bewohnte immer
noch die alte Chauffeurswohnung über der Garage, stand allnächtlich offen. Max
schwang sich nach 22 Uhr über die Mauer, schlich durch den Garten, es war nicht
stilvoll, auch riskant, aber der kürzeste Weg. Raymond freute sich
außerordentlich über den Besuch, er kicherte wie ein Mädchen. Seine Beine waren
gelähmt, geistig schien er noch auf der Höhe zu sein. An Details der Geschichte
wirkte er wenig interessiert, er freute sich viel eher, überhaupt noch etwas
bewirken zu können, vor allem hinter dem Rücken seiner Familie. Natürlich mußte
Max ihm auf gewisse Weise entgegenkommen, das verstand sich von selbst. Danach
schrieb Raymond einen Empfehlungsbrief an einen alten Freund im
Außenministerium, in dem es sinngemäß hieß, daß dem jungen Karl Loewe, et
cetera, Journalist in Barcelona, et cetera, durch ein Sondervisum das Betreten
französischen Bodens gewährt werden solle sowie die Weiterfahrt in die
Hauptstadt. Schon drei Tage später war das Visum per Einschreiben nach
Barcelona unterwegs, an die Adresse der Rosarios. Ob es dort jemals ankommen
würde, war unsicher. Ein nicht geringer Teil der Post ging gewöhnlich verloren
oder blieb irgendwo liegen. Dem Visum lag ein 500-Francs-Schein bei, was die
korrekte Zustellung noch weniger wahrscheinlich machte.
    Karl fiel der Abschied von Sebastián sehr schwer. Sein
erster Schüler war ihm eine Art Ziehsohn geworden, der zu ihm aufsah und ihm
vertraute. Ihn alleinzulassen würde der Knabe wahrscheinlich wie einen Verrat
empfinden. Aber hierzubleiben hatte keinen Sinn mehr. Sebastián würde es
gutgehen. Nach Francos Sieg stand dem Jungen eine goldene Zukunft bevor. Einen
Moment später konnte Karl nur den Kopf über eine solche Beurteilung der Lage
schütteln, als habe er schmerzhaft einsehen müssen, nicht mehr zurechnungsfähig
zu sein. Es schien höchste Zeit, Ruhe zu finden, irgendwo, Abstand von
emotionalen Verstrickungen zu gewinnen, sein Gehirn freizuräumen von
Gefühlsgerümpel, das den Blick auf das Wesentliche verstellte.
    Das Visum aus Paris traf ein. Karl kündigte schon für den nächsten
Tag seine Abreise an. Die Rosarios veranstalteten ein kleines Fest zu seinen
Ehren. José spielte nach vielen Monaten zum ersten Mal wieder auf dem Klavier,
das eigentlich verkauft werden sollte. Nur schien im Moment, aus einsichtigen
Gründen, niemand ein

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