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Nicht ganz schlechte Menschen

Nicht ganz schlechte Menschen

Titel: Nicht ganz schlechte Menschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Krausser
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    Eine
Unzahl von Agenten und Politkommissaren leistete harte Propagandaarbeit. Die
neu aus dem Boden geschossenen Zeitungen der spanischen KP ließen keine
Gelegenheit ungenutzt, den Anarchisten und den angeblichen Trotzkisten von der
POUM am Zeug zu flicken. Binnen weniger Monate war ein Bürgerkrieg im
Bürgerkrieg entstanden. Die Gefechte fanden vorerst noch auf medialer Ebene
statt, und die Anarchisten begriffen erst spät, was um sie herum vorging. Sie
waren sich ihrer Vormachtstellung zu lange zu sicher gewesen und trieben wie
versehentlich, ohne ernsthafte Gegenmaßnahmen einzuleiten, ihrem Untergang
entgegen.
    Am 19. November fiel Durutti an der Front, die schon auf
dem Stadtgebiet von Madrid verlief. Der Leichnam wurde nach Barcelona
überführt, und Karl sah sich den Trauerzug zu Ehren des toten Helden an. Es war
der größte, den Spanien je erlebte. In der Pariser Tageszeitung wurde darüber
kein Wort verloren, das Blatt lag komplett auf Moskauer Linie, derzufolge die
Anarchisten entweder nicht existierten oder keine Erwähnung verdienten. Über
eine halbe Million Menschen erwiesen Durutti die letzte Ehre. Es war ein
trüber, wolkenverhangener Tag, und die Menschen sanken zu Tausenden auf die
Knie, als die Ehrenwache den Sarg vorbeitrug. Es ging das Gerücht um, Durutti
sei von hinten aus nächster Nähe erschossen worden, vielleicht sogar von einem
seiner eigenen Leute. Andere machten die Kommunisten verantwortlich. Die
Anarchisten hielten an der Darstellung fest, eine verirrte Kugel der Faschisten
habe ihn von einem Hochhaus aus getroffen. Doch das Loch mit den Pulverspuren
in Duruttis Hemd machte für Ballistik-Spezialisten jeden Zweifel unmöglich: die
Kugel mußte aus einer Entfernung von zehn bis höchstens fünfzig Zentimetern
Entfernung abgefeuert worden sein.
    Zu
diesem Zeitpunkt wußten nur eine Handvoll Menschen, was wirklich passiert war.
Durutti hatte vorne neben dem Fahrer gesessen, das Gewehr zwischen seinen
Knien. Beim Aussteigen im Kampfgebiet gab Durutti nicht acht, der Gewehrkolben
stieß gegen das Trittbrett des Wagens, ein Schuß löste sich und durchschlug
Duruttis Brust. Ein tragischer Unfall, verursacht durch grobe Fahrlässigkeit.
Es war klar, daß seitens der Anarchisten kein Interesse bestand, die Wahrheit
zu verbreiten. Erstens hätte niemand daran geglaubt, denn Durutti war ein sehr
erfahrener Mann im Umgang mit Waffen. Zudem wäre eine glorreiche Legende auf
banale Weise zerstört worden. Alle Zeugen des Vorfalls mußten schwören, bis zum
Ende des Krieges zu schweigen.
    Mit
Duruttis Tod verlor die anarchistische Bewegung ihre einzige zugleich fähige
wie charismatische Führungspersönlichkeit. Der innerspanische, regional
überschaubare Konflikt war eine Sache von Hitler/Mussolini auf der einen und
Stalin auf der anderen Seite geworden. Ein prestigeträchtiger
Stellvertreterkrieg der großen extremen Systeme. Genau wie einst von Karl
befürchtet.
    In
ihrer Not hatte die Zentralregierung in Madrid schon im August die
Mobilisierung der Reserve der Jahre ’33 bis ’35 angeordnet. Die anarchistische
CNT indes weigerte sich, ihre Leute für eine reguläre Armee bereitzustellen.
Zehntausend junge Männer bekundeten in einer Großdemonstration ihre Weigerung.
Wir gehen an die Front, riefen sie, aber wir beugen uns keiner Disziplin und
keinem Befehl, der nicht direkt aus dem Volk kommt! Die Ideologie der
Anarchisten war gewollt primitiv, für jeden verständlich und in der Realität
sofort konkret überprüfbar. Es galt das Prinzip der organisierten Indisziplin.
Jeder trug Verantwortung vor sich und dem Kollektiv. Jeglicher Zwang blieb ein
Tabu. Darin lag enorme Anziehungskraft – und ebensoviel Angriffsfläche. Mit dem
Ausbleiben militärischer Erfolge begannen viele, auch ganz einfache Menschen,
an diesem Prinzip zu zweifeln. Die Hoffnung, ein befreiter Arbeiter würde
automatisch zum besseren Arbeiter werden, ein höheres Ethos entwickeln und
vertreten, hatte getrogen. In vielen ländlichen Kollektiven war den Herbst über
nicht hart genug gearbeitet worden, statt dessen waren alle Vorräte verbraucht,
und die Produktion hinkte dem Bedarf weit hinterher. Die skrupellose Propaganda
der KP hatte es unter diesen Umständen leicht, den Anarchismus per se zum
Sündenbock zu stempeln. Während die anarchistischen Theoretiker sich noch über
die Nicht-Einmischungspolitik der westlichen Demokratien wunderten, unfähig,
das innere Wesen des Faschismus als radikal-restauratives

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