Nicht ohne dich
Abendkleidern für Silvester würde sie bis Heiligabend zu tun haben.
Mein Schneewittchen, die Sieben Zwerge, die böse Stiefmutter und der Prinz waren für Herrn von Himmelreins Enkel bestimmt. Ich hatte mir große Mühe gegeben, jedem Zwerg einen eigenen Gesichtsausdruck zu verleihen, die einen blickten fröhlich, die anderen mürrisch oder ein bisschen traurig, und alle hatten unterschiedliche, mit bunten Flicken besetzte Kleider. Am achtzehnten Dezember hatte ich alle fertig und brachte sie nach oben zu Raffi, wo ich sie aufs Bett legte. Sein typisches Grinsen überzog sein Gesicht, als er sie begutachtete.
»Sie sind wunderschön, Jenny«, sagte er.
Alles, was ich tat, tat ich eigentlich für Raffi, und auch Raffi präsentierte mir jeden seiner Entwürfe: Er hatte Pläne für ein neues Berlin. Gebäude aus weißem Stein mit Balkonen, luftig und sauber, mit klaren Linien.
»Nach dem Krieg wird man Architekten brauchen«, sagte er, aber mir entging nicht, dass sich dabei ein Muskel in seiner Wange nervös anspannte.
Am Sonntag, dem neunzehnten Dezember, besuchten wir Onkel Hartmut und Tante Grete, die tags darauf nach Heidelberg fahren würden, um Weihnachten mit Hildegard und Kunigunde zu verbringen. Ich wollte nicht mitkommen, weil ich Raffi nicht allein lassen wollte, aber ich musste. Brettmann holte uns mit Onkel Hartmuts Wagen ab und fuhr uns zwischen Schutthaufen durch die Straßen, vorbei an ausgebrannten Ruinen, in denen einmal Menschen zu Hause gewesen waren. Ich dachte an London und Coventry; wahrscheinlich sah es dort genauso schlimm aus, und bei der Vorstellung fühlte ich mich elend. Warum musste das bloß alles so sein?
Weiter draußen Richtung Wannsee wurde es etwas besser, viele Straßen waren unversehrt, aber drei Häuser vor den Hansens stand eine ausgebrannte Villa. Die Bäume im Garten waren umgestürzt; ihre schwarzen Stämme lagen, die Wurzelballen in der Luft, am Boden. Ich dachte: Onkel Hartmuts und Tante Gretes Haus wird bestimmt nicht bombardiert, dafür werden sie irgendwie gesorgt haben. Eine abwegige Vorstellung, aber ich war überzeugt davon.
Mama lieferte Tante Grete die bestellten Kleider ab und überreichte ihr auch die Bluse, die sie ihr als Weihnachtsgeschenk genäht hatte. Ich hatte für Onkel Hartmut eine Krawatte gehäkelt. Alle unsere Gaben hatte ich in Seidenpapierreste aus der Werkstatt verpackt, mit bunten Wollfäden verschnürt und mit selbstgemachten rot-grünen Wollbommeln verziert. Sie sahen hübsch aus. Hildegard und Kunigunde bekamen selbstgebastelte Karten von mir.
Tante Grete schenkte Mama und mir je eine Flasche Kölnisch Wasser. Das war nett von ihr, obwohl ich von Fantasia de Fleurs erst die Hälfte aufgebraucht hatte. Außerdem bekamen wir eine große Tasche mit einer Weihnachts-Extraration Lebensmittel. Dann setzten wir uns zu Kaffee und Kuchen.
Schließlich sagte Onkel Hartmut: »Am Montag muss ich auf eine Beerdigung. Von meinem Freund aus dem Innenministerium. Sein Flugzeug ist über der Nordsee abgeschossen worden.« Er hielt inne und sah uns bedeutungsvoll an. Obwohl er ganz bewusst den Namen seines Freundes nicht genannt hatte, wussten wir, wen er meinte. Es war der Mann, der Papa aus dem Gefängnis geholt und uns vielleicht vor der Gestapo beschützt hatte.
»Von nun an werdet ihr äußerst vorsichtig sein müssen«, sagte Onkel Hartmut und sah Mama dabei fest in die Augen. Mama presste die Lippen aufeinander. Ich starrte zu Boden. Es war ein merkwürdiger, gruseliger Augenblick.
Tante Grete fing sofort an, von dem Konzert zu erzählen, bei dem Hildegard und Kunigunde auftraten: Sie würden in Walkürenkostümen patriotische deutsche Lieder singen. »Die Schildjungfern, wisst ihr«, erklärte sie eifrig, »von denen die toten Helden nach Walhall geleitet wurden.« Dann blickte sie aus dem Fenster, als hoffte sie, einen Schwarm Walküren an die Ostfront schweben zu sehen.
»Sie wissen hundertprozentig Bescheid«, sagte Mama zu Raffi, als wir nach Hause kamen. »Alle beide. Jedenfalls wird es durch den Tod von Hartmuts Freund gefährlicher für uns.«
»Vielleicht sollte ich doch Katrin einen Besuch abstatten und sie fragen«, schlug ich vor. »Ich mache uns erst mal Kaffee, Mama, der wird uns beim Nachdenken helfen.« Ich setzte den Wasserkessel auf und holte Tante Gretes Bohnenkaffee aus der Tasche. Braun und glänzend lagen die Bohnen in meiner Hand. Ich schüttete sie in die Mühle und drehte an der Kurbel, kurz darauf erfüllte der
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