Nicht ohne dich
hinausdrang.
Mama sagte: »Danke, Janke.«
»Da ist noch etwas«, fuhr Janke fort. »Bald werden hier eine Menge ausgebombter Leute einquartiert. Ich habe eine Mitteilung bekommen, weil doch oben die ganzen Wohnungen leerstehen – und ich weiß nicht, was das für Leute sein werden. Genug gesagt, Frau Friedemann. Guten Tag.«
Ich war in Panik.
»Er soll nicht fortgehen!«, protestierte ich. Eigentlich erwartete ich, dass Mama mich egoistisch nennen und mir sagen würde, ich müsse an seine Sicherheit denken. Aber das tat sie nicht. Sie saß einfach nur da. Schließlich erwiderte sie: »Ich möchte ihn auch nicht wegschicken, Jenny. Nur …«
Ich dachte daran, wie sie an unsere Tür gehämmert und gerufen hatten: »Aufmachen! Gestapo!« Und die Gestapo hatte alles über Raffi in ihrer Akte stehen, sie musste nicht beim Bäcker nachfragen, welche Haarfarbe er hatte. Sobald man dort erfuhr, dass ich mit einem blonden Jungen gesehen worden war, dessen Identität ich nicht preisgab, würden wir Besuch bekommen.
Ich konnte mich kaum überwinden, es zu sagen. »Ich weiß. Wir müssen uns Gedanken machen.« Dann zwang ich mich zu fragen: »Was ist mit dem Bauernhof von Katrins Verwandten? Wäre er dort sicher?«
»Nein«, befand Mama. »Zwischen uns und Katrin gibt es eine Verbindung, deshalb würden sie dort vermutlich auch sofort nachsehen. Für den äußersten Fall haben wir immer noch den Lagerraum unter der Treppe. Nur dass wir dieses Mal vielleicht nicht damit durchkommen. Immerhin hat man dich mit ihm gesehen.«
Jetzt hasste ich Willi Mingers regelrecht. Sogar tot war er noch eine Bedrohung für uns.
»Es ist ja noch Zeit«, versuchte Mama mich zu beruhigen. »Wir können uns etwas einfallen lassen.«
»Warum muss denn alles so sein? Das ist nicht fair, Mama …«
Ich kämpfte gegen die Tränen an; Raffi sollte mich nicht hören. Mama streckte den Arm über den Küchentisch und nahm meine Hand. Dann stand sie auf und kam zu mir herüber. Ich legte den Kopf an ihren Bauch und schluchzte gedämpft, während sie mein Haar streichelte. Ihr Bauch fühlte sich durch die Baumwollschürze und die Hose hindurch so vertraut an. Wie oft hatte ich als kleines Kind den Kopf in ihrem Bauch vergraben und geweint.
Da drinnen war ich einmal gewesen. Ich spürte den dünnen, von meinen Tränen durchtränkten Baumwollstoff an meiner Backe, und die Falten der Hose, und dachte: Vielleicht trage ich bereits Raffis Baby in mir. Da fühlte ich mich ein klein wenig besser und hörte auf zu weinen. Ich straffte die Schultern und trocknete mir die Augen.
Mama sah mich besorgt an. »Ich wünschte …«, begann sie, doch dann hielt sie inne. Ich wusste, was sie sich zu sagen verkniffen hatte. Sie wünschte, Raffi und ich hätten uns nicht ineinander verliebt. Aber das wünschte ich mir nicht. Was auch immer passierte.
Ich glaube, weder ihr noch mir kam es in den Sinn, dass Frau Mingers uns ebenso gut in Bayern denunzieren konnte. Wahrscheinlich war es auch besser so, immerhin hatten wir so eine Sorge weniger.
Es kam eine Postkarte von Paula. Geht es Euch gut? Wir haben schreckliche Dinge über Berlin gehört. Bitte lass mich so schnell wie möglich wissen, dass Ihr noch am Leben seid. Ich vermisse Dich.
Ich schrieb postwendend zurück und hoffte, dass meine Karte ankommen würde. In diesen Zeiten wusste man nie.
Manchmal träumte ich davon, mit ihr und Raffi am See zu sein, und für sie war auch ein netter Junge dabei. Wir schwammen und alberten herum und tauchten uns gegenseitig unter und niemanden störte es, dass Raffi Jude war. Aber gleichzeitig wusste ich die ganze Zeit genau, dass es nur ein Traum war.
Die Neuankömmlinge zogen ein und versahen ihre Briefkästen ordentlich mit Namensschildern. Mama und ich lernten die Familie kennen, die über den Tillmanns wohnte: Frau Steffens mit ihren sechs Kindern, alle unter zehn, und ihrer Mutter Frau Hanselmann. Die Kinder waren evakuiert worden, aber getrennt von ihrer Mutter so unglücklich gewesen, dass Frau Steffens sie zurückgeholt hatte.
»Wenn wir schon sterben müssen«, sagte sie, »können wir genauso gut alle zusammen sterben.«
Frau Hanselmann war eine stämmige Frau mit weißen Haaren und roten Wangen. Sie kümmerte sich um die Kinder, während Frau Steffens bis spät in die Nacht bei den Berliner Verkehrsbetrieben arbeitete. Frau Steffens trug kein Mutterkreuz. Das freute mich.
Herr Steffens war in Kriegsgefangenschaft in Amerika, wie Papa, aber in Minnesota,
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