Nicht ohne dich
Tiefste Trauer. Wenn wir bloß zusammen wären, wir vermissen dich so sehr. Versuchen uns irgendwie zu trösten. Wir lieben dich innig. Sylvia. Jenny.
»Jeden Morgen beim Aufwachen fühle ich mich ganz normal, und dann fällt mir das mit Karl ein und es geht los. Ich will nicht aufstehen, will mich im Bett verkriechen. Aber da halte ich es auch nicht aus. Nirgends halte ich es lange aus«, erzählte ich Raffi.
»Ich weiß«, erwiderte er, während seine Arme sich noch fester um mich schlossen. »Mir ging es nach Papas Tod genauso.«
»Klar, das kann ich mir vorstellen.« Der Regen wurde heftiger, die Tropfen liefen uns von der Stirn über das Gesicht. Es störte mich nicht, mein Gesicht war ohnehin schon nass. »Die Drecksnazis haben diesen Krieg angefangen und ihn um sein Leben gebracht«, sagte ich.
Raffi nickte. »Ihnen ist es egal, wie viele Menschen durch ihre Schuld umkommen.«
An dem Tag, an dem das Telegramm gekommen war, war ich nicht zur Schule gegangen. Mama hatte also eine Mitteilung schreiben müssen, in der sie mein Fernbleiben erklärte. Als Klotz, in diesem Jahr mein Klassenlehrer, die Nachricht gelesen hatte, sagte er: »Dein Bruder hat also das äußerste Opfer für sein Land gebracht.« Nachdem er eine Weile auf das Papier gestarrt hatte, hob er den Kopf, und ich sah in seinen kleinen Schweinsaugen Wut blitzen. Er war wütend auf mich, ich konnte es gar nicht glauben, nicht einmal Klotz hätte ich das zugetraut, nicht in diesem Augenblick. Er sagte: »Und du bist nicht einmal willens, in den Bund Deutscher Mädel einzutreten und deinen Beitrag für den Krieg zu leisten.«
Elfriede Griesweil murmelte: »Ja, ich habe gestern den ganzen Abend lang Bandagen angefertigt, während die Friedemann faul herumgesessen hat.«
Paula meldete sich zu Wort. »Sie hat dagesessen und um ihren Bruder geweint, Griesweil. Glaubst du vielleicht, das hat ihr Spaß gemacht?« Sie legte all den Dünkel ihrer adligen Herkunft in ihre Stimme, und unter ihrem Blick schrumpfte Klotz förmlich zusammen. Er bekam es plötzlich mit der Angst. Paula war er nicht gewachsen, auch sonst nicht, aber dieses Mal schon gar nicht. Er legte die Hand an den Saum seiner Jacke und klammerte sich daran, als wollte er sich selbst daran hindern zu salutieren. Dann schrillte die Glocke mit lautem Misston. Zeit für die erste Unterrichtsstunde. Klotz nahm das schwere Klassenbuch an sich und floh. Anders kann man es nicht ausdrücken.
Ich ging zu meinem Tisch, und Paula umarmte mich.
»Schweine«, flüsterte sie. Anschließend blieb sie die ganze Zeit über in meiner Nähe, bis die Schule aus war. Sogar auf die Toilette begleitete sie mich. Ich war so froh, sie bei mir zu haben.
Muffi wusste auch Bescheid, da bin ich mir sicher. Andauernd lief sie winselnd zu Mama und mir. Und Katrin kam uns besuchen und weinte. »Es gab keinen besseren Jungen auf der Welt«, sagte sie. »Dieser hundsgemeine Krieg.«
Eines Tages platzte es Mama gegenüber aus mir heraus: »Ich könnte aus der Haut fahren.«
»Geht mir genauso«, sagte sie und ihre Stimme klang fast irre vor Schmerz. »Komm, nimm Muffi an die Leine, wir gehen raus. Egal, wohin.«
Es war Samstagmittag. Sogar Frau Mingers hatte ihren Laden geschlossen. Wir machten uns mit Muffi auf den Weg. Erst am Bahnhof merkten wir, dass wir den Wannsee ansteuerten, wo wir im Sommer zuvor mit Karl gewesen waren. Aber keine von uns machte eine Bemerkung darüber, nicht einmal, als Mama die Fahrkarten kaufte. Der Zug war voll, wir mussten stehen. Ich spürte, wie sich Muffi an meine Beine schmiegte.
Wir gingen zum Ufer und schleppten uns müde durch den feinen Sand. Die Frühlingssonne lag glitzernd auf dem See. Meine Augen schmerzten.
Ich sagte: »Er ist nicht hier, Mama. Warum sind wir hergekommen?«
Muffi stupste mich mit der Schnauze in die Kniekehlen, aber Mama stapfte weiter und ich musste laufen, um mit ihr Schritt zu halten. Dann wandte sie sich um und sagte heftig: »Ich musste mich vergewissern, dass er nicht hier ist.«
Wir gingen weiter, bis wir vollkommen erschöpft waren. Es tat irgendwie gut.
Als wir auf dem Rückweg den Bahnhof Grunewald passierten, sagte eine Frau hinter mir zu ihrer Freundin: »Hier laden sie die Juden nachts in die Züge, am Güterbahnhof. Mein Bruder arbeitet bei der Bahn, er sagt, sie stopfen sie rein wie Sardinen in die Büchse und geben ihnen nichts zu essen oder zu trinken. Es ist furchtbar, manche sterben auf der Reise.«
Vielleicht war sie ein bisschen
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