Nicht ohne dich
besucht.
»Letzte Nacht«, sagte sie durch ihr geblümtes Halstuch hindurch zu mir, »war es zwar schlimm, aber ich war trotzdem irgendwie froh – weil ich Gaby aufs Land geschickt habe. Deine Mutter hätte dich auch wegschicken sollen. Es wäre eine Entlastung für sie zu wissen, dass du in Sicherheit bist, besonders weil ja dein Bruder …« Aber sie merkte, dass ich nicht über Karl reden wollte. »Hast du es schon gehört? In der Spree schwimmen Krokodile, die sind aus dem Zoo entkommen, und Löwen und Tiger laufen frei herum.« Nervös blickte sie sich um.
Ein älterer Mann lachte rau auf und meinte: »Die brauchen gar nicht auf die Jagd nach frischem Fleisch zu gehen. Es liegen ja genügend Leichen herum, fertig zum Verzehr.«
»Schämen Sie sich«, tadelte ihn Frau Mattes. »Ein bisschen Respekt würde nicht schaden.«
»Dazu ist es zu spät«, sagte der Mann und hieb mit seinem Stock erbarmungslos auf den Boden ein.
Der Schlachter und der Gemüsehändler lagen unweit voneinander einen Häuserblock entfernt. Falls es sie noch gab.
Als ich um die Ecke bog, sah ich eine Reihe ausgebrannter Häuser, deren Kamine in den Himmel ragten, als wollten sie jedem zeigen, woher das Feuer gekommen war. Geschwärzte Kachelöfen klebten an den Wänden. Unten am Boden ragte das Ende einer Badewanne aus einem Haufen Trümmer, neben der vorderen Hälfte eines Klaviers, dessen Tasten wie abgebrochene Zähne auf den Ziegeln verstreut lagen. Jemand hatte auf die Überreste der Hausmauern geschrieben: Zimmermann, erster Stock. Wir leben noch. Sind nach Zehlendorf gezogen. Darunter stand ihre neue Anschrift. Auch die Essers, die Westenbergs und die Knappsteins, die dort gewohnt hatten, lebten noch, und ich freute mich für sie, obwohl ich sie gar nicht kannte.
Von einem der nächsten Häuser war nur noch ein Trümmerhaufen übrig, aus dem Balken herausragten. Dort hatte niemand eine Nachricht hinterlassen. Der Gestank drang durch mein Halstuch und ich musste würgen, aber trotzdem blieb ich stehen und starrte auf die Ruine. Monika Schroeder aus meiner Klasse hatte dort gewohnt. Ein schüchternes Mäuschen, das zusammengezuckt war, wenn ein Lehrer herumbrüllte. Jetzt war sie vielleicht tot.
Männer gruben in den Trümmern, schrecklich ausgemergelte, verängstigte Gestalten in gestreiften Uniformen, sie mussten Ziegelbrocken in Schubkarren schaufeln und Balken hochhieven, bewacht von einem wohlgenährten Wachmann, der mit gezückter Waffe auf und ab lief. Gefangene von irgendwoher, vielleicht aus einem Konzentrationslager. Als einer von ihnen über den Schutt stolperte und hinfiel, kam ein Wachmann und trat ihn. Es war schrecklich mit anzusehen, aber der Mann rappelte sich auf und machte sich wieder an die Arbeit. Dann entdeckte mich der Wachmann.
»Was gibt’s da zu glotzen?«, blaffte er. Weil ich wusste, wie gefährlich es für mich werden konnte, wenn ich mich mit ihm anlegte, ging ich weiter. Ich musste die ganze Zeit daran denken, dass der Wachmann den armen Gefangenen getreten hatte wie die Gestapo damals Papa, trotzdem suchte ich mir vorsichtig meinen Weg, machte einen Bogen um herunterhängende Stromleitungen und das Durcheinander aus Asche und schwarzen Ästen, das einmal ein Baum gewesen war. Schließlich erreichte ich das Karree, wo sich einst der Schlachter und der Gemüsehändler befunden hatten, und es stand noch, eine weitere Insel in einem Meer der Verwüstung, wie unser Karree. Beide Läden waren geschlossen, aber im Fenster des Schlachters verkündete ein Schild:
FLEISCH MORGEN
Ich war gerade dabei, es zu lesen, als die Tür aufging. Herr Gross nickte mir zu.
»Fräulein Friedemann. Ich bin froh, dass Sie noch leben. Und Ihre Mutter?«
»Es geht ihr gut. Woher bekommen Sie jetzt Ihr Fleisch?«
Gross kratzte sich am Kinn. Er hatte sich heute nicht rasiert. »Sie sind ja hoffentlich nicht zimperlich?« Ich starrte ihn an, grauenvolle Ahnungen beschlichen mich. Er sagte: »Im Zoo werden die toten Tiere verkauft. Ich bin gerade auf dem Weg dorthin.«
Auf dem Heimweg fragte ich mich, ob ich es fertigbringen würde, Elefantenfleisch zu essen.
Die Männer in den gestreiften Uniformen bargen einen Körper aus dem Schutt. Ich sah schwarze, steif im rechten Winkel abstehende Arme und Beine, die unter einer bestickten Tischdecke hervorragten, mit der die Bergungskräfte Kopf und Rumpf zugedeckt hatten. Das Schlimmste waren die weißen Klauen an den Fingerspitzen. Es waren keine Klauen, sondern
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