Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nicht ohne dich

Nicht ohne dich

Titel: Nicht ohne dich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boje Verlag
Vom Netzwerk:
Knochenenden.
    Ich würgte, mein Frühstück stieg mir in einem sauren Schwall in den Hals. Zwei Frauen kamen mir entgegen. Sie warfen mir einen kurzen Blick zu, aber ein Mädchen, dem auf der Straße schlecht wurde, ließ sie kalt. Eine hörte ich sagen: »Und das Phosphor aus den Brandbomben, das segelt in Flocken herab, und wenn einen eine auch nur berührt, brennt sie sich bis auf die Knochen durch.«
    Raubkatzen bekam ich keine zu Gesicht.
    Wir aßen wie üblich um halb sechs; wir spülten das Geschirr; wir setzten uns zusammen; und Mama, die gerade ein Kleid für Tante Grete fertig gemacht hatte, schlief auf dem Lehnsessel ein, den Raffi für sie in die Küche getragen hatte. Ich musste mit meiner Arbeit vorankommen, deshalb setzte ich mich an den Tisch und nähte weiter an einem braungesichtigen Zwerg mit einer grünen Jacke und einer roten Zipfelmütze. Er war der größte von sieben. Schneewittchen fehlte auch noch. Der Strom war noch nicht wieder da, aber der Schein der Petroleumlampe reichte zum Arbeiten.
    Ich blickte zu Raffi. Er war mit voller Konzentration dabei, ein Gebäude zu entwerfen. Ich wusste, dass Architekten normalerweise auf große Papierbögen zeichneten, aber Raffi musste sich für seine Pläne mit dem kleinen Heft begnügen, das ich ihm besorgt hatte. Seine Gebäude waren winzig wie Behausungen für Flöhe. Plötzlich blickte er auf und fuhr sich mit der Hand durchs Haar, dann kreuzten sich unsere Blicke und ein Leuchten ging über sein Gesicht. Er hatte an die vergangene Nacht gedacht, das sah ich ihm an. Ich wollte mich zu ihm schleichen und ihn küssen, aber da wachte Mama auf, und kurz darauf ging der Fliegeralarm los.
    Ich legte die Puppe nieder, Raffi sein Heft. Wir fielen uns in die Arme, klammerten uns aneinander. Mama machte sich daran, die Fenster zu öffnen. Kalte Luft und das Heulen der Sirene drangen in den Raum.
    Ich schluckte schwer. »Ich bleibe mit Raffi hier oben.«
    »Hast du den Verstand verloren?«, fragte Mama. »Wie soll ich das den Leuten erklären? Letzte Nacht war es schon schlimm genug.«
    »Aber ich kann ihn nicht zurücklassen.« Ich weinte.
    »Kopf hoch«, sagte Raffi. Ich spürte, wie heftig sein Herz klopfte, aber er grinste. »Mit meinem Stahlhelm passiert mir nichts.«
    »Was?«, fragte ich dümmlich.
    »Das Küchensieb. Und ich werde unter den Tisch kriechen.«
    Ich musste ihn loslassen, um Mama mit den Fenstern zu helfen. Raffi konnte nicht, es hätte ihn jemand sehen können, der mit der Taschenlampe heraufleuchtete.
    Wir gingen in den Keller, jede mit einem Koffer in der Hand, außerdem nahm ich eine Taschenlampe und Mama die Petroleumlampe mit. Mir war, als müsste mein Herz zerspringen.
    Frau Tillmann folgte uns die Treppe hinab und erklärte unterdessen, wenn die Bomben detonierten, müssten wir unsere Rippen umfassen, damit die Druckwelle nicht unsere Lungen zerfetzte. Ich hatte es gestern nicht gemacht und meine Lungen hatten es überstanden, aber ich machte mir trotzdem Sorgen um Raffi, dem niemand Bescheid gegeben hatte. Und wie sollte ich Muffis Lungen schützen?
    »Am besten ist es«, erklärte Frau Mingers, die direkt vor uns ging, »wenn man mit dem Rücken zu einer Außenwand sitzt.« Sie trippelte zu der Mauer, die an die Straße grenzte, und ließ sich dort niederplumpsen.
    So saßen wir da mit unseren Petroleumlampen und Kerzen und warteten auf die Bomber. Als ich sah, wie Janke sich mit der Hand den Kiefer rieb, merkte ich, wie angespannt mein Kiefer war. Ich dachte: Ich will noch einmal mit ihm schlafen, wenigstens noch ein einziges Mal. Dann spürte ich die erste Druckwelle aus weiter Entfernung.
    Ich biss mir auf die Unterlippe und fing an, mir Muffis Locken um den Finger zu wickeln. Sie wandte mir den Kopf zu und leckte meine Hand. Ich spürte, wie ihr Herz in ihrem schmalen Brustkorb raste. Sie dürfen Raffi nicht töten, das dürfen sie einfach nicht, dachte ich.
    »Armes Tierchen, sie versteht gar nicht, was um sie herum vorgeht«, meinte Frau Tillmann mit einem Blick auf Muffi.
    Frau Mingers schnaubte. »Das Vieh gehört nach oben.«
    »Heute brauchen sie eigentlich gar nicht ihre Christbäume abzuwerfen, es wüten ja überall in der Stadt noch die Feuer von gestern«, bemerkte Janke grimmig.
    Ich stellte mir die Magnesium-Leuchtbomben vor, die an Fallschirmen herabsegelten, hübsch funkelnd über dem roten Feuerschein und den Rauchwolken. Ich stellte mir vor, wie die Suchscheinwerfer über den Himmel wanderten und die Bomber zu

Weitere Kostenlose Bücher