Nicht ohne dich
anfangen, koscheres Essen zu verlangen, Tante Sylvia.« Er grinste. »Das ist ungeheuer aufwändig. Die orthodoxen Jungen an der Jüdischen Schule haben mir alles erklärt. Außerdem soll man nach den Zehn Geboten leben, nicht für sie sterben, das habe ich auch in der Schule gelernt. Wenn nichts anderes da ist als Schweinefleisch und Krokodilschwanz, dann muss ich eben das essen. Ich hatte sowieso schon immer eine Schwäche für Würstchen«, meinte er schelmisch.
»Ist Krokodilschwanz denn verboten?«, fragte Mama.
»Reptilienfleisch allgemein«, erklärte Raffi. »Aber das macht nichts. Und ich übernehme heute auch das Geschirrspülen und helfe beim Kochen, Sabbat hin oder her. Das möchte ich euch nicht aufbürden, es wäre keine gute Art, das Judentum zu leben.«
Am nächsten Tag besuchten uns Tante Grete und Onkel Hartmut mit ihrem Mercedes. Ich kam gerade vom Einkaufen, deshalb sah ich ihren Wagen über die schmale Fahrspur kriechen, die man weiter oben an der Straße, wo alle Häuser zerstört worden waren, von Trümmern freigeräumt hatte. Der Weg war gerade eben breit genug für ihr Auto.
»Wir haben zwei Stunden gebraucht«, klagte Tante Grete. Sie behielt ihren Pelzmantel an. Mama und ich trugen jeweils zwei Pullover, warme Hosen und Wollsocken in den Hausschuhen. »Ihr glaubt ja nicht, was das für Umwege waren. Trotzdem, wir mussten einfach nachsehen kommen, ob es euch gut geht. Es ist wie ein Wunder! Ich bin nicht wegen des Kleids da, Sylvia, ich kann mir gut vorstellen …«
»Es ist schon fertig«, unterbrach Mama sie. Tante Grete gab einen erfreuten Laut von sich, doch Mama meinte bloß: »Ich wollte es dir bringen, aber jetzt seid ihr ja da.«
»Da hättest du was vorgehabt«, sagte Onkel Hartmut düster. »Und weiß der Himmel, was diese Terroristen uns noch alles antun werden. Wenigstens nimmt der Mond gerade zu – und die Engländer sind zu feige, bei Vollmond Angriffe zu fliegen, weil sie wissen, dass die Luftwaffe sie dann abschießt. Hast du gehört, dass ihr Luftmarschall Harris für Berlin Flächenbombardements wie in Hamburg plant? Gott steh uns bei.«
Mit einem Blick zu Onkel Hartmut bemerkte Mama: »Die Menschen in London werden sicher auch nicht gern bombardiert. Oder in Coventry oder einer der anderen Städte.«
Eine ganze Weile herrschte Schweigen. Ich hielt den Atem an. Dann sagte Onkel Hartmut plötzlich kopfschüttelnd: »Ich hoffe, das hast du nicht anderen Leuten gegenüber geäußert, Sylvia.«
»Nein, Hartmut«, versicherte Mama. »Habe ich nicht.«
Wieder trat ein unbehagliches Schweigen ein, ehe Mama fragte: »Hat es deine Fabrik erwischt?«
»Nur oberflächliche Schäden«, erklärte Onkel Hartmut.
»Und euer Haus?«, fragte Mama.
»Ist unversehrt«, schaltete sich Tante Grete ein. Als wollte sie die Situation retten, fuhr sie in betont fröhlichem Ton fort: »Aber du bist eine wahre Heldin, Sylvia, ich kann nicht fassen, dass du mein Kleid schon fertig hast.«
Sie hatten Unmengen Lebensmittel mitgebracht. Brot, Kartoffeln, Schinken, Eier, Würstchen, noch mehr Butter und eingemachtes Gemüse in Gläsern und Dosen. »Weil ich nicht sicher war, ob ihr schon wieder Gas habt«, erklärte Tante Grete.
»Noch nicht lange«, entgegnete Mama, nahm ein Glas Essiggurken und lächelte mich darüber hinweg an. Wir hatten seit Ewigkeiten keine Essiggurken mehr gegessen. Es war auch Rollmops dabei, ein Leckerbissen für Raffi. Er liebte Rollmops.
Als sie fort waren, sagte ich zu Mama: »Wissen sie es oder ahnen sie es nur?«
»Hartmut weiß es, da bin ich sicher«, meinte Mama. »Und Grete – vielleicht, vielleicht aber auch nicht.« Sie schraubte das Einmachglas auf und fischte mit der Gabel eine Gurke heraus, die sie in zwei Hälften schnitt. Eine davon reichte sie mir. Ich biss hinein und genoss den scharfen Geschmack.
Sie fuhr fort: »Was auch passiert, Menschen von seiner Sorte schwimmen immer oben. Und Frauen wie Grete haken sich bei den reichen Männern unter und lassen sich von ihnen aushalten.«
»Sind sie dir schon immer so auf die Nerven gegangen?«, fragte ich.
»Vom ersten Augenblick an, seit ich deinen Vater geheiratet habe. Sie haben uns ständig bevormundet. Und wir müssen uns dankbar zeigen für all die Lebensmittel. Aber ich bin nicht dankbar. Ich bin nur froh, dass wir die Sachen haben.«
»Ich auch«, pflichtete ich ihr bei. Ich nahm eine Dose Rollmops und holte einen Teller und noch eine Gabel. »Das bringe ich Raffi.«
In jener Nacht
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