Nicht ohne meine Mutter: Mein Vater entführte mich als ich ein Jahr alt war. Die Geschichte meiner Befreiung (German Edition)
Strecke bleibe, und es ist ihnen vollkommen egal.«
Es war seltsam für mich zu erleben, dass fremde Menschen klarer, liebevoller und verständnisvoller mit mir umgingen als meine eigene Familie.
Das alles ist heute zum Glück lange her. Ich hege keinen Groll mehr gegen meine Schwester, denn ich habe erkannt, dass auch sie nur das Produkt einer wahnwitzigen Sozialisierung in einer kranken Familie ist, und versucht hat, ihr eigenes, wackeliges Lebensschiffchen durch alle Klippen heil hindurchzusteuern.
Inzwischen ist sogar ganz Unglaubliches geschehen. Melissa fiel tatsächlich aus ihrer Prinzessinnenposition, und sie fiel tief. Inzwischen ist sie Mutter eines süßen Kindes, doch weil sie keinen Vater dazu vorweisen konnte, wurde sie von unserem Vater und dem gesamten Al-Mer-Clan zu guter Letzt verstoßen. Am Ende tat sie das, was man mir immer unterstellt hatte, und auch sie wurde ein Opfer der Doppelmoral, der sogenannten Familienehre. Mir tut das leid, ich hätte meiner Schwester so etwas niemals gewünscht. Und doch wird die Zeit vieles wieder zurechtrücken: Die ersten zaghaften Besuche bei unseren Tanten haben bereits wieder stattgefunden.
Doch damals, als ich die ersten Kontakte mit meinen Geschwistern wieder aufnahm, konnte ich das alles noch lange nicht so entspannt sehen wie heute. Wenigstens stand Mourad wieder zu mir. Und eines Tages sagte er: »Ich soll dir übrigens schöne Grüße sagen.«
»Ja?«, fragte ich. »Von wem denn?«
»Von deiner Mutter.«
»Von Elke?«
»Nein«, sagte er, »von Saliha. Sie fragt jedes Mal nach dir.«
»Echt?«, fragte ich erstaunt.
Wenn ich an meine Mutter dachte, dann war da immer eine ganz seltsame Stille in mir.
»Wann besuchst du sie denn mal?«, wollte Mourad wissen.
Tatsächlich gab es nichts mehr, was mich hinderte. Und doch schob ich es hinaus. Warum? Lange Zeit konnte ich es selbst nicht sagen.
Ich dachte darüber nach und fand heraus: Es war die Furcht, dass sie mich ablehnen würde, wenn sie mich erst einmal sah. Alle lehnten mich ab. Bei ihr war noch alles offen, und so konnte ich mir ein Treffen mit ihr je nach Stimmung ausmalen: An meinen schlimmen Tagen dachte ich, dass sie mich nicht mögen würde. Ich sah meinem Vater viel zu ähnlich. Würde sie nicht erschrecken, wenn sie mich sah, zurückzucken, sich erinnert fühlen, ihn in mir sehen? War es möglich, dass sie mich, Meral, wahrnehmen könnte, und nicht andauernd ihn in meinen Zügen entdeckte?
2005 heiratete unsere Halbschwester Fatima, und wieder ließ ich eine Gelegenheit verstreichen, gemeinsam mit Mourad zu dieser Hochzeit zu fahren. Denn auch dies war eines meiner Schreckensbilder, die ich mit einem Besuch bei Saliha verband: Würde nicht auch ihre Familie mich sofort verheiraten wollen? In meinen schlimmsten Visionen sah ich mich dort in diesem Dorf, wie ein finsterer Onkel mein Gepäck durchwühlt und mir meinen Pass wegnimmt. Ich hatte das bereits einmal erlebt, als mein Vater mich wochenlang in meinem Zimmer eingesperrt hatte und schon das Ticket kaufte, um mich in Anatolien zu verheiraten.
»Du spinnst doch«, sagte Mourad.
Und fuhr allein zu Fatimas Hochzeit.
Saliha hatte bereits vor Mourads Weggang nach Deutschland wieder geheiratet, einen sieben Jahre jüngeren Ziegenhirten, und mit ihm sechs weitere Kinder bekommen. Fatima war die älteste Tochter aus dieser Ehe, also meine jüngere Schwester.
Es gab Momente, da malte ich mir unser Wiedersehen in den schönsten Farben aus. Noch hatte ich die Freiheit dazu, noch war die Realität nicht dazwischengekommen und hatte ihren unveränderlichen Stempel auf mein Verhältnis zu Saliha gedrückt. Dann dachte ich, dass ich gerne ihr Essen probieren würde, ja es gab Momente, da war die Sehnsucht übermächtig, von ihr bekocht zu werden, Mutterspeisen zu kosten, und ich stellte mir vor, dass sie ganz besonders gut schmecken müssten. Ich hatte noch nie ein warmes Gericht von meiner Mutter probiert, und je besser ich selbst kochen lernte, desto dringender wurde der Wunsch danach. Dann stellte ich mir vor, dass ich irgendwann einmal einen Tag mit ihr verbringen und eine Nacht unter ihrem Dach schlafen würde. Wie eine »To-do-Liste«, die ganz hinten in meinem Bewusstsein entstand, mit dem Erledigungsdatum »Irgendwann«.
Denn natürlich hatte ich eine brennende Sehnsucht nach meiner Mutter. Die wurde wach, wenn meine Freundinnen mit ihren Müttern shoppen gingen oder dies und das unternahmen. Wenn ich Mutter und Tochter gemeinsam in
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