Nicht ohne meine Mutter: Mein Vater entführte mich als ich ein Jahr alt war. Die Geschichte meiner Befreiung (German Edition)
der Stadt traf, wenn ich hörte, wie sie zusammen kochten und aßen.
Wenn mein Bruder mich darauf ansprach, warum ich nicht mal bei Saliha anrief oder gar einen Flug nach Antakya buchte, fand ich allerdings jahrelang Ausreden. Immer fiel mir etwas ein, was unbedingt dagegen sprach: meine Arbeit oder ein geplanter Urlaub woanders – mir fiel immer irgendein Grund ein, warum es gerade jetzt nicht möglich war.
Verlor ich mich aber einmal wieder in der Masse der Dinge, hatte ich Kummer, dann hörte ich die leise Stimme in mir, die »Mama! Mama!« rief.
Und doch stand mein Entschluss schon lange fest. Eigentlich schon damals während des Prozesses, als ich erfahren hatte, dass Saliha gar nicht tot war, wie es mir mein Vater ein Jahr zuvor weisgemacht hatte. Es war klar, dass ich hinfahren würde. Die Frage war nur, wann.
Inzwischen besuchte Mourad unsere Mutter und ihre Familie jedes Jahr einmal. Dazwischen telefonierte er hin und wieder mit ihnen.
»Und?«, fragte ich meinen Bruder nach einem dieser Besuche. »Wie fühlt es sich an, dort hinzukommen? Ist es ein Nachhausekommen?«
Mourad schüttelte den Kopf.
»Nein«, sagte er, »ich bin dort ja nicht zu Hause. Eher wie ein Familienbesuch. Als würde ich eine Tante oder so etwas besuchen. Auf eine Art ist sie mir voll vertraut. Aber zu Hause … nein. Eher so ein … Zwischending … Schwer zu erklären.«
Meine Halbschwester Fatima bekam ein Mädchen und ließ mich fragen, ob ich damit einverstanden wäre, wenn sie sie nach mir »Meral« nannte. Gerührt ließ ich ausrichten, dass mich das sehr freue. Im Jahr 2007 sandte ich über meinen Bruder zum ersten Mal ein Geldgeschenk zum Zuckerfest. Das war das Erste und vorläufig Einzige, was von mir dort ankam.
Von meinem Bruder wusste Saliha nun, dass ich alleine lebte, nicht verheiratet war, dass ich Musik mache. Im türkischen Fernsehen wurde auf dem Sender TRT , der der deutschen ARD entspricht, eine Dokumentation über Musikerinnen in Berlin ausgestrahlt, und dafür wurde ich porträtiert. So kam es, dass meine Mutter mich zuerst, ehe sie mich persönlich kannte, im Fernsehen sah. Danach dachte die ganze Familie, ich sei reich und viel beschäftigt.
»Wann kommt sie endlich?«, fragte meine Mutter Mourad jedes Mal, wenn er mit ihr sprach. »Was hindert sie daran, ihre Mutter zu besuchen?«
25
Die Reise
J a, was hinderte mich eigentlich?
Jahr um Jahr verstrich, und ich schob meine Reise, die auf alle Fälle stattfinden sollte, da war ich mir ganz sicher, immer wieder auf. Wenn man etwas, das andere von einem erwarten und das man sich selbst auch heimlich sehr wünscht, zu lange aufschiebt, dann wird die Hürde immer größer. Inzwischen hatte ich den Ordner, in den ich bislang meine Aufzeichnungen gepackt hatte, hervorgeholt und das Geschriebene geordnet. Ich ergänzte es und versuchte zum ersten Mal, nicht nur einzelne Szenen zu schreiben, sondern eine richtige Geschichte mit einem Anfang, einer Mitte und einem Ende. Ich stellte fest, dass das gar nicht so einfach ist, immer wieder holten mich die Emotionen und Erinnerungen ein und ich musste die Arbeit beiseitelegen.
Und wieder geschah es, dass ich genau das fand, was ich gerade nötig brauchte: Ich lernte Ivana kennen, die Kreatives Schreiben studierte und mich immer wieder unglaublich darin ermutigte, dieses Vorhaben wirklich in die Tat umzusetzen. Sie erklärte mir, wie man Kontakte zu Literarischen Agenten und Verlagen knüpft. So kam eins zum anderen, und schließlich fand ich nicht nur einen Verlag, der sich für meine Geschichte interessierte, sondern traf auch die Schriftstellerin Beate Rygiert. Ich zeigte ihr meine Aufzeichnungen, erzählte ihr, wie alles begann. Als ich damit fertig war und sie alles durchgelesen hatte, sagte sie: »Nun fehlt uns noch das Ende.«
»Das Ende?«, fragte ich erstaunt.
»Oder besser gesagt: das Wichtigste. Das Treffen mit deiner Mutter.«
»Ja, klar«, sagte ich schnell. »Das habe ich ja auch vor. Eines Tages fahre ich hin.«
»Wann genau?«, wollte Beate wissen.
Ich merkte, dass sie es ernst meinte. Und mir wurde klar, dass sich die Sache nun nicht länger aufschieben ließ. Als ich daran dachte, bekam ich wieder Angst. Was, wenn mich die Familie dort einkassierte? Was, wenn sie mich an den Dorffriseur verheiratete? Was, wenn mich einer der Verwandten meines Vaters, die ja auch in der Gegend lebten, umbrachte? Aber was mich noch viel tiefer ängstigte: Was, wenn meine Mutter mich nicht mochte? Wenn sie mich
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