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Nicht ohne meine Mutter: Mein Vater entführte mich als ich ein Jahr alt war. Die Geschichte meiner Befreiung (German Edition)

Nicht ohne meine Mutter: Mein Vater entführte mich als ich ein Jahr alt war. Die Geschichte meiner Befreiung (German Edition)

Titel: Nicht ohne meine Mutter: Mein Vater entführte mich als ich ein Jahr alt war. Die Geschichte meiner Befreiung (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Meral Al-Mer
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Sommersprossennase kraus.
    »Keine Ahnung«, antwortete ich und erinnerte mich an den schwarzen Tee, den ich mit Elkes Eltern in Holland getrunken hatte, »vielleicht kommt da Milch rein, oder Sahne. Ja genau! Daran kann der Freier erkennen, ob die Braut eine gute Partie ist oder nicht. Wenn die Mutter kein Geld für Sahne hat, dann …«
    Doch da stimmte unser Musiklehrer ein anderes Lied an, und ich dachte an meinen Vater, und wie er mir fast die Zunge abgeschnitten hätte, weil ich zu viel gequatscht hatte. Singen war ohnehin viel schöner als Reden.
    Eines Tages erzählte mir Elke, sie sei schwanger.
    »Dann bekomme ich also einen Bruder?«, fragte ich hingerissen.
    »Oder eine Schwester?«
    Ich freute mich unbändig! Seit Mark aus meinem Leben verschwunden war, sehnte ich mich so sehr nach einem Geschwisterchen.
    Alles an Elkes Schwangerschaft interessierte mich. Ja, man kann sagen, ich war mit ihr schwanger. Zu sehen, wie ihr Bauch langsam wuchs, faszinierte mich. Ich massierte ihren anschwellenden Leib täglich mit Frei-Öl ein, damit sie keine Schwangerschaftsstreifen bekam, was sie ungeheuer genoss. Ich ging mit zu den Untersuchungen beim Frauenarzt und ließ mir von ihr erzählen, was in den Ratgeberbüchern stand, die sie nun stapelweise verschlang. Wir wohnten in einer Dachwohnung ohne Aufzug, und einmal bereitete ich Elke eine Überraschung: Während sie ihren Mittagschlaf hielt, brachte ich die schwere Kiste mit Mineralwasser von ganz unten bis zu uns ins Dachgeschoss: Dazu trug ich jede Flasche einzeln hinauf und am Ende auch die leere Kiste, dreizehnmal stieg ich die vielen Stockwerke hinunter und wieder hinauf, bis am Ende alles oben war. Da freute Elke sich, und ich war glücklich. Auch meinen Vater stimmte »unsere« Schwangerschaft sanft; das werdende Kind in Elkes Bauch hatte die Macht, uns glückliche Zeiten zu schenken.
    Es war im Dezember 1987, ich war sechs Jahre alt und würde im Februar sieben werden, als mein Vater wieder einmal zu einer Reise in die Türkei aufbrach.
    »Wenn ich zurückkomme«, sagte er mir, »dann bringe ich deinen Bruder mit.«
    Meinen Bruder? Ich hatte einen Bruder? In dieser Nacht konnte ich nicht einschlafen. Der Gedanke an einen zwei Jahre jüngeren Bruder ließ mein Herz vor Freude hüpfen.
    »Wieso will meine richtige Mutter meinen Bruder nicht mehr?«, fragte ich am anderen Morgen Elke. Mein Vater war schon fort.
    Elke ließ sich mit ihrer Antwort Zeit. »Für eine Frau in der Türkei«, sagte sie schließlich, »ist es einfacher, wieder neu zu heiraten, wenn sie kein Kind hat, verstehst du?«
    Ich nickte. Ja, das mit dem Freier, der vor der Tür steht. Wenn im Tee keine Pünktchen sind und auch noch ein kleiner Junge im Haus herumrennt, dann ist das wahrscheinlich nicht so günstig. Trotzdem. Es tat mir leid für meinen Bruder, dass er von seiner Mama fortmusste. Und ich nahm mir vor, ganz besonders lieb zu ihm zu sein.
    »Und wo wird er schlafen«, fragte ich weiter. »Bei mir im Zimmer?«
    »Fürs Erste wohl schon«, meinte Elke und warf mir einen schnellen Blick zu.
    »Oh«, beruhigte ich sie, »das ist in Ordnung. Er kann gerne bei mir schlafen.«
    Ich überlegte ein bisschen, dann fragte ich: »Wie heißt mein Bruder eigentlich?«
    »Mourad«, sagte Elke und legte eine Hand auf ihren Bauch.
    »Mourad«, sprach ich leise nach. Ich freute mich auf meinen Bruder. Ich würde gut auf ihn aufpassen, so wie ich es mit Mark gemacht hatte.
    Währenddessen spielte sich in dem türkischen Dorf nahe der syrischen Grenze, in dem meine Mutter lebte, ein Drama ab. Mourad wollte nicht von seiner Mama weg. Ihre Tränen stürzten ihn in große Verzweiflung. Er konnte sich nicht vorstellen, irgendwo anders zu leben als in dem winzigen strohgedeckten Häuschen mit dem festgestampften Erdboden. Dies war seine Welt, hier war er zu Hause. Der Brunnen im Garten, der alte Baum mit seinen riesigen Ästen darüber, die Schaukel, die an einem Ast hing, die Ziegen und die Hühner, die Katze und der Esel seines Onkels – all das sollte er nie wiedersehen?
    Noch verwirrender waren die Reaktionen der Erwachsenen. Seine Mutter weinte und klammerte sich an ihn. Seine Tanten wehklagten, als sollte er sterben. Das ganze Dorf war gegen diesen fremden Vater aufgebracht, der nun kommen würde, um ihn zu verschleppen wie ein böser Dschinn. Sogar sein Großvater, der sonst so ruhig und besonnen war, so gütig und weise, der tobte gegen diesen Vater, der jeden Moment erwartet wurde, um ihn nach

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