Nicht ohne meine Mutter: Mein Vater entführte mich als ich ein Jahr alt war. Die Geschichte meiner Befreiung (German Edition)
und vergeudet.
Von alldem wusste ich nichts, nicht nur damals, sondern all die Jahre lang, in denen ich mir – selten genug – die Frage erlaubte, warum meine Mutter mich so leichten Herzens aufgegeben hatte, warum sie nicht nach mir suchte und um mich kämpfte. Ich wusste ja noch nicht einmal, dass ich einen Bruder hatte, als mein Vater vom Militärdienst zurück nach Deutschland kam und von mir und Elke am Flughafen abgeholt wurde. Ich sah zu, wie Elke theatralisch losrannte, kaum dass sie Hamids Lockenkopf in der Menge der Ankommenden erblickt hatte, dabei ihre Handtasche verlor und ihrem Geliebten in die Arme fiel, und hatte keine Ahnung von dem Schmerz meiner richtigen Mutter. Ich sammelte Elkes Handtasche auf und wartete, bis sich mein Vater meiner besann. Die rote Rose, die wir mitgebracht hatten, hätte ich ihm gerne gegeben. Oder doch wenigstens gemeinsam mit Elke. Doch mir wurde klar, dass ich nun wieder hintanstehen würde: in Elkes Aufmerksamkeit, die jetzt wieder ausschließlich auf meinen Vater ausgerichtet war, und in der Liebe meines Vaters, die in erster Linie Elke zu gelten schien.
Mein Vater, den ich mehr liebte als sonst jemanden auf der Welt, war wieder zurück. Er brachte Geschenke mit, sein die Wohnung ausfüllendes Lachen, seinen Vaterduft und die knallenden Gutenachtküsse, seine verrückten Ideen und Einfälle, die aus einem ganz normalen Tag ein unvergessliches Erlebnis machen konnten. Aber auch das Funkeln in seinen Augen, das einen Tobsuchtsanfall ankündigte, auch das brachte er wieder mit. Sein »Es muss so laufen, wie ich es sage« galt nicht nur für Elke, es galt auch für mich. Und wenn ich mich nicht daran hielt, fiel ich aus dem Fenster oder verlor meine Zunge, mit Sicherheit aber brauchte ich die nächsten Tage kühlende Kompressen für schmerzende blaue Flecken.
Die Zeit verging, ich wuchs und wurde älter, und vieles blieb für mich rätselhaft. Es schien, als hätte ich mehrere Merals in mir: Meine Fröhlichkeit, die Begeisterungsfähigkeit und die gute Laune, die ich meistens versprühte, waren allgemein beliebt. Ganz anders sah es mit meinem Zorn aus: »Du Fotze!«, beschimpfte ich einmal so laut ich nur konnte immer wieder einen Jungen, mit dem ich unten im Hof spielte, bis mein Vater das Fenster aufriss und mir befahl heraufzukommen.
»Weißt du eigentlich, was das heißt?«, fragte er mit diesem gefährlichen Glitzern in den Augen unter den dichten Brauen, die mit seiner Nase ein Y bildeten.
Ich weiß nicht mehr, was ich antwortete, ich erinnere mich nur noch an die Verwirrung, die sich in meinen Zorn über den Jungen mischte. Schrie nicht mein Vater diesen Ausdruck, wenn er wütend war? Warum durfte ich ihn nicht benutzen? Mein Vater war mir Leit- und Vorbild, was also war nicht in Ordnung mit diesem Wort? Und warum wandten sich alle so entsetzt von mir ab und behandelten mich, als sei ich die Schuldige, wenn ich meinem gerechten Zorn lautstark Stimme verlieh?
Keine Schimpfwörter brauchte ich allerdings, wenn ich zur musikalischen Früherziehung gehen durfte. Dort lernten wir Flötespielen und mit Klöppeln auf Instrumente mit hölzernen und metallenen Stäbchen zu schlagen, die wunderbare Namen wie »Xylophon« und »Glockenspiel« trugen. Wir lernten deutsche Volkslieder singen, wie:
Mutter, da steht ein Freier vor der Tür,
Tirili, tirila, tiri dum dum dum,
Mutter, da steht ein Freier vor der Tür,
Halleluja!
Frag ihn, wie viel Geld er hat,
Tirili, tirila, tiri dum dum dum,
Frag ihn, wie viel Geld er hat,
Halleluja!
Tausend Dukaten und noch mehr,
Tirili, tirila, tiri dum dum dum,
Tausend Dukaten und noch mehr,
Halleluja!
Frag ihn, was er trinken will,
Tirili, tirila, tiri dum dum dum,
Frag ihn, was er trinken will,
Halleluja!
Tee mit weißen Pünktchen drin,
Tirili, tirila, tiri dum dum dum …
Und während die kleinen Mädchen mit deutschen Eltern fragten: »Häääh? Freier? Was soll das denn heißen?«, war für mich die Geschichte völlig klar. Oft genug hatte ich es in der Wohnküche von Oma Halima mit angehört, wenn es damit losging, dass eine meiner Tanten heiraten sollte.
»Das ist so wie bei uns«, erklärte ich meinen verblüfften Mitsängerinnen und dem noch erstaunteren Musiklehrer. »Da muss einer, der dich heiraten will, auch erst sagen, wie viel Geld er hat. Und dann kann er kommen und kriegt Tee, und dabei bespricht man das Ganze.«
»Und die weißen Pünktchen im Tee?«, wollte ein Mädchen wissen und zog ihre
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