Nicht ohne meine Mutter: Mein Vater entführte mich als ich ein Jahr alt war. Die Geschichte meiner Befreiung (German Edition)
Deutschland zu holen.
»Hier«, sagte der Großvater und drückte ihm ein großes Küchenmesser in die Hand. »Wenn er gleich kommt, dann bring ihn um, den Ehrlosen.«
Und dann war er auf einmal da. Mit einem Auto war er gekommen, um ihn zu holen. Kam auf ihn zu, Schritt für Schritt, und da stand der kleine Mourad, fünf Jahre alt, das riesige Messer in der Hand. Ein Mann sollte er sein und die Ehre seiner Mutter rächen, aber er war doch nur ein Kind, und ein tiefes Schluchzen erfasste und schüttelte ihn, mit hochgezogenen Schultern und steif abgespreizten Ärmchen, wie ein Vögelchen, das fliegen soll und es noch nicht kann, stand er da und erwartete das Unvermeidliche. Das große Küchenmesser fiel zu Boden, und Mourad wurde auf- und hochgehoben, über die Vaterschulter geworfen, und so sehr er auch schrie und mit den Beinen strampelte, mit seinen kleinen Fäusten gegen den Vaterrücken trommelte, es nützte ihm nichts. So sah er sein bisheriges Leben entschwinden, auf dem Kopf gestellt, schwankend, sah, wie sich die Vaterfersen vorwärtsbewegten, bis er nichts mehr sehen konnte, weil ihm das Wasser aus Augen, Mund und Nase lief.
Mein Vater nahm Mourad mit auf den Basar, um Geschenke einzukaufen. Mourad bekam einen Ball. Und dann bestiegen sie das Flugzeug, das ihn in das fremde Land bringen sollte.
Von dem großen Kummer meines Bruders ahnte ich nichts. Ich war neugierig und aufgeregt, stand am Fenster und wartete, dass er endlich kam. Und dann war er da, braungebrannt, verheult, rotzverschmiert und todmüde. Mourad, der noch nie Schuhe an seinen Füßen getragen hatte, kam in ein kaltes Land voller Schnee und Eis. Als er die vielen Treppenstufen zu unserer Dachwohnung hochsteigen sollte, versagten ihm die Kräfte: Häuser, die mehr als eine Etage hatten, waren ihm unbekannt, noch nie in seinem Leben hatte er so viele Treppen hochsteigen müssen. Als er mich sah, blickte er mich an wie ein Ertrinkender. Seine Mutter hatte ihm immer wieder eingeschärft: »Dort, wo du hinkommst, wartet deine große Schwester auf dich. Sie gehört zu dir, ihr zwei müsst zusammenhalten.«
Noch am selben Abend gingen wir die nötigsten Dinge für Mourad einkaufen: Zahnbürste, Schlafanzug, und was er sonst noch brauchte. Im Supermarkt sollte er sich aus einem riesigen Regal mit Süßigkeiten etwas aussuchen. Angesichts des überwältigenden Angebots brach mein Bruder in Tränen aus. Das war alles zu viel für ihn. Mir wurde klar, in Mourad hatte ich wieder jemanden, den ich lieben und beschützen konnte. Ich ergriff seine Hand und drückte sie fest. Mourad schniefte, wischte sich mit der Faust die Tränen ab und blinzelte ins Neonlicht des Supermarkts. Nach einer Ewigkeit entschied er sich für eine Tüte »Daim«. Da wusste ich, er war bei uns angekommen. Von nun an war ich nicht mehr allein.
6
Der Traum von einer ganz normalen Familie
E s war großartig, wieder einen Bruder zu haben. Gerne zeigte ich Mourad in seinen ersten Tagen bei uns, wie das Leben hier funktionierte. Ich hätte mir vorher nie im Traum vorstellen können, was man alles nicht kennt, wenn man in einem kleinen türkischen Dorf an der Grenze zu Syrien aufgewachsen ist: Mourad wusste zum Beispiel nicht, wie man bei uns eine Toilette benutzt, und wollte zuerst auf die Klobrille steigen. Er sprach ein Kauderwelsch aus Arabisch mit ein paar Fetzen Türkisch, doch lernte er schnell die deutsche Sprache. Sein erstes deutsches Wort war »Pampelmuse«.
»Sei du bloß froh«, funkelte mich mein Vater hin und wieder drohend an, »dass ich dich dort rausgeholt habe. Stell dir vor, du müsstest in diesem Dreck leben! Ich hätte dich ja auch bei deiner Mutter lassen können. Dann würde man jetzt schon Ausschau nach einem Ehemann für dich halten. Du weißt gar nicht, wie gut du es hast, dass du hier bei mir leben darfst.«
Kurz nach Mourads Ankunft feierten wir Weihnachten, und auch das war für ihn neu. Ich zeigte ihm alles, was ich kannte, und erklärte ihm, was ich wusste. Geduldig beantwortete ich seine vielen Fragen. Mourad war ein liebes und süßes Kind. Er kam in den Kindergarten und gewöhnte sich gut ein, nicht ein einziges Mal fragte er nach seiner Mama. Ganz ähnlich wie ich, brauchte mein Bruder viel Zärtlichkeit. Wenn Elke uns etwas kochte, stand er gern hinter ihr, lehnte sich an sie und umfing ihre Beine mit den Armen.
Ende Januar war es dann so weit: Elke musste ins Krankenhaus, das Kind kam auf die Welt. Als wir sie alle zusammen besuchten,
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