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Nicht ohne meine Mutter: Mein Vater entführte mich als ich ein Jahr alt war. Die Geschichte meiner Befreiung (German Edition)

Nicht ohne meine Mutter: Mein Vater entführte mich als ich ein Jahr alt war. Die Geschichte meiner Befreiung (German Edition)

Titel: Nicht ohne meine Mutter: Mein Vater entführte mich als ich ein Jahr alt war. Die Geschichte meiner Befreiung (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Meral Al-Mer
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spürte ich genau, dass etwas nicht stimmte, dafür hatte ich von klein auf einen Sensor entwickelt: Die Blumen, die mein Vater mitgebracht hatte, lagen irgendwo, keiner machte Anstalten, sie in eine Vase zu tun. Mein Vater zankte mit Elke, und zwar um das Geschlecht des Kindes. Es war ein Mädchen, und das war für meinen Vater Anlass, enttäuscht zu sein.
    Doch es war nun einmal nicht zu ändern, und so nannten sie das Baby Melissa. Und Meli, wie wir sie bis heute nennen, war wirklich ein unglaublich süßes Baby. So oft es Elke mir erlaubte, nahm ich sie auf den Arm und trug sie herum, und auch Mourad liebte es, mit der Kleinen zu schmusen. Wie sehr das Geschlecht des Kindes Thema war, zeigt auch folgende Geschichte: Wir standen um den Wickeltisch herum und sahen zu, wie Meli frische Windeln erhielt. Da fragte mein Bruder in aller Unschuld: »Wird es denn jetzt noch ein Junge?«
    Nein, Meli war ein Mädchen und blieb es, und nach kurzer Zeit hatte sich auch mein Vater damit abgefunden. Wie wir alle, verliebte auch er sich in die Kleine, und ganz untypisch für einen arabischen Mann, machte es ihm gar nichts aus, sie zu wickeln und zu baden. Bis vor Kurzem war Meli die Prinzessin in unserer Familie.
    Für uns alle war die Zeit der Schwangerschaft und der ersten Monate nach Melis Geburt wahrscheinlich die glücklichste Phase in unserem Familienleben, denn mein Vater war sanft gestimmt und schlug uns nicht so oft. So ein Neugeborenes bringt eine besondere Schwingung mit, die sich auf uns alle übertrug. Im April 1988 heirateten Hamid und Elke standesamtlich. Und wenn sich die beiden an diesem Tag auch heftig stritten, weil Hamid Elkes Hosenanzug, ihre kurz geschnittenen Haare und ihre Schminke nicht gefielen, so war dies doch ein klares Bekenntnis, ein Ja zu seiner neuen Familie.
    An diesem Abend saßen wir zum ersten und letzten Mal alle gemeinsam im Restaurant Anadolu, wo meine Familie gerne hinging: Großvater Abit, der sich trotz der Verstoßung seines ältesten Sohnes überreden ließ, sich zu dieser Gelegenheit wieder an einen Tisch mit ihm zu setzen, Oma Halima, Ma und Pa, Elke und Hamid, alle Geschwister meines Vaters und sogar Elkes lesbische Schwester samt ihrer Freundin, alle Kinder – einfach alle. Bei dieser Gelegenheit sagte Opa Abit zu Pa, er sei ein »Kapitalist«, worüber Ma noch Jahre später stellvertretend für Pa empört sein sollte. Was mein Opa sagen wollte – und er sagte ja sonst nie etwas – war, dass Pa viel Geld hatte und Chef einer deutschen Firma war, also meinte er es als Kompliment. Damals wusste er noch nicht, dass dieser »Kapitalist«, also ein »Mann mit Kapital«, in den folgenden Jahren allen seinen Schwiegersöhnen und einem Großteil seiner Söhne gute Stellen verschaffen und so dafür sorgen würde, dass sie sich an einen privilegierten Lebensstandard gewöhnen konnten. Mein Onkel Mostafa hat heute sogar die Stellung inne, die damals Pa hatte: Er ist Abteilungsleiter in einer großen Düsseldorfer Firma.
    Nun waren unsere Eltern also auch nach deutschem Recht verheiratet. Und doch gab es immer wieder kleine Situationen, in denen die Trennung zwischen Mourad und mir als den Kindern aus Hamids erster Ehe und der »neuen«, jungen Familie deutlich wurde. Elke wachte eifersüchtig darüber, Meli für sich zu haben. Sie erlaubte mir nicht, den Kinderwagen zu schieben, noch nicht einmal meine Hand durfte ich an den Griff legen, wenn Elke ihn schob. »Diese Zeit vergeht viel zu schnell«, erklärte sie, »und das will ich ganz auskosten.« Wie sie das sagte und dabei meine Hand wegschob, verletzte mich damals sehr, denn ich fühlte mich ausgeschlossen. Dabei liebte ich Meli doch auch!
    Ein anderes Mal hatte Elke Meli auf dem Arm, und Mourad und ich lehnten uns an sie, eigentlich waren wir andauernd in der Nähe der beiden. Da fragte ich, was Kinder in diesem Alter halt so fragen: »Mama, hast du uns eigentlich alle gleich lieb?«
    »Na ja«, gab Elke zur Antwort, »ich habe euch alle lieb. Aber Meli ist mein eigenes Kind, und darum liebe ich sie natürlich mehr als euch.«
    Ich fühlte, wie sich der Schmerz in Mourads Herz bohrte, sah, wie ihm die Kinnlade herunterfiel und seine Augen groß und feucht wurden. Es tat mir unendlich leid für ihn zu sehen, wie er tapfer nickte und leise sagte: »Oh, ja … ach so … na ja. Das kann ich schon verstehen. Die Meli hast du also lieber …«
    Elke war einfach ein durch und durch aufrichtiger Mensch, ehrlich bis über die Schmerzgrenze.

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