Nicht ohne meine Mutter: Mein Vater entführte mich als ich ein Jahr alt war. Die Geschichte meiner Befreiung (German Edition)
Doch schon damals, im Alter von sieben Jahren, fühlte ich, dass man so etwas nicht machen kann. Dass man so etwas zu einem Fünfjährigen, der gerade seiner Mutter weggenommen wurde, einfach nicht sagen darf, und wenn es auch noch so wahr ist. An mich selbst dachte ich in dem Moment überhaupt nicht. Bei solchen Gelegenheiten war in mir alles taub; in meinem Hals bildete sich ein dicker Kloß, und der Raum um mein Herz fühlte sich hohl an. Umso mehr schlossen Mourad und ich uns einander an.
Mein Bruder entwickelte sich zu einem richtigen Fußballtalent, und schon bald spielte er in der A-Jugend des Vereins Borussia Mönchengladbach. Dort fand er einen bunt gemischten Freundeskreis und lernte im Nu die deutsche Sprache. Andere türkische oder arabische Kinder außer unseren Verwandten kannten wir eigentlich gar nicht. Und auch in dem Viertel, in dem wir wohnten, waren wir die einzigen Ausländer.
Im Sommer nach Melis Geburt zogen wir in ein Reihenhaus. Wieder war alles neu für mich: eine neue Schule, neue Nachbarn, neue Freunde. Das nahm ich gern in Kauf, hatten wir doch jetzt viel mehr Platz als in der Dachwohnung und sogar einen Garten zum Spielen. Gleich hinter den Reihenhäusern begannen Wiesen mit Koppeln, auf denen Pferde grasten; etwas weiter entfernt gab es Ziegen. Wegen denen gab es einmal großen Ärger: Es war an einem warmen Sommerabend. Ich hatte schon gebadet, trug mein Nachthemd und sollte eigentlich ins Bett. Stattdessen lief ich noch einmal kurz hinaus und fütterte die Ziegen. Als ich zurückkam, überraschte mich mein Vater. Er machte ein Riesentheater.
»Du kannst doch nicht einfach weglaufen!«, schrie er mich an.
»Ich hab doch nur die Ziegen gefüttert«, erklärte ich ihm.
»Im Nachthemd! Wenn dich da einer mitnimmt …«
Ich verstand seine Sorge nicht. Wieso sollte mich einer mitnehmen? Erklären konnte oder wollte mein Vater mir nicht, warum er so aufgebracht war, und wie so oft, wenn meinem Vater die Worte ausgingen, schlug er zu. Es setzte ein paar Schläge auf den Po. Und ich verstand immer noch nicht, warum ich am frühen Abend vor dem Schlafengehen nicht noch rasch die Ziegen füttern durfte.
Die ersten beiden Sommer im neuen Reihenhaus waren trotzdem wunderschön. So wie unser Garten aussah, so stand es auch um unsere Familie: Damals blühten in unserem Vorgarten fett die Dahlien, hinten gab es einen Gemüsegarten, Möhren, die wir aus der Erde zupften und sofort aufaßen, Stangenbohnen, die in den Himmel wuchsen. Drei Schaukeln, eine für jedes Kind.
Ich durfte Haustiere halten: einen Hamster und ein Kaninchen. Eines Tages fiel die Katze das Kaninchen an, und mein Vater sagte, nun müsse er es töten. Dazu ging er in den Keller, was ich ganz schön gruselig fand. Auch mit meinem Hamster, den ich sehr liebte, nahm es kein gutes Ende. Manchmal ließ ich den Hamster in der Gästetoilette frei herumlaufen. Normalerweise brachte ich ihn abends zurück in seinen Käfig, doch eines schönen Tages vergaß ich das. Mein Vater fand den Hamster im Klo und ärgerte sich darüber. Er brachte ihn in mein Kinderzimmer.
»Du sorgst nicht richtig für den Hamster«, sagte er. »Darum schmeiße ich ihn jetzt über den Zaun.«
Und das tat er auch, trotz meines Flehens. Der Hamster flog über den Zaun und verschwand für immer. Ich trauerte sehr um ihn.
Und doch – mit meinem Vater war es in jenen ersten Jahren seit Melis Geburt längst nicht so schlimm wie früher. Er schlug uns zwar immer noch, aber nicht so systematisch, seine Bestrafungen waren nicht mehr so schreckenerregend inszeniert. Ich ahnte ja nicht, dass wir nichts als eine Ruhepause durchlebten, eine Phase des relativen Friedens, die wir Meli verdankten.
Auch Ella und Manfred sorgten dafür, dass wir so etwas wie eine richtige Kindheit erleben konnten. Wir verbrachten viel Zeit bei den beiden, und ich genoss das sehr. Ich mochte es, wenn Ella mich auf ihre »altmodische« Weise erzog. Saß ich zum Beispiel am Tisch und stützte meinen Kopf in die Hände, dann fragte sie mich: »Ist dir dein Kopf zu schwer?« Auf ihre Weise brachte sie mich dazu, mich »aufrecht« zu halten, damit ich keinen Rückenschaden bekam. Ich mochte es auch, wenn sie, die den Krieg noch erlebt hatte, den Schokoriegel in der Mitte durchbrach, ehe sie uns je eine Hälfte reichte. Manchmal hob sie sogar Obst auf, das Händler nach einem Markttag weggeworfen hatten, »weil es doch noch gut ist und man die paar schlechten Stellen rausschneiden kann«. Das
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