Nicht ohne meine Mutter: Mein Vater entführte mich als ich ein Jahr alt war. Die Geschichte meiner Befreiung (German Edition)
beißt dich. Und dann blutet dein Herz …
Meine Oma Halima war die fleißigste Frau, die ich jemals kennengelernt habe, immer auf den Beinen. Sie hatte zehn Kinder, fünf verschiedene Jobs als Putzhilfe in Privathaushalten und Großküchen, einen durchgeknallten Ehemann – und trotzdem war sie meistens guter Laune, kitzelte mich am Kinn und brachte mich zum Lachen. Eines Tages wollte sie mir zeigen, wie schnell und perfekt sie Besteck abtrocknen konnte: Dazu nahm sie ein Geschirrhandtuch, nahm so viel Besteck, wie sie nur halten konnte in die linke Hand und warf blitzschnell ein Teil nach dem anderen, nachdem sie es poliert hatte, »zack zack zack« in die entsprechende Schublade. Sie war sehr stolz auf diese Fertigkeit und wollte sie mir beibringen, weil sie glaubte, dass mir dies eines Tages sehr nützlich sein könnte, ich aber lachte sie aus und erklärte ihr, dass ich das nicht zu lernen bräuchte, weil ich nie, nie, niemals in meinem Leben einen solchen Job annehmen würde. Ich merkte im selben Moment, wie sehr ich sie damit verletzte und beschämte. Indem ich sie auslachte, stellte ich ja ihr gesamtes Leben in Frage. Noch heute tut es mir weh, wenn ich an diese Situation denke, und tatsächlich mache ich es inzwischen genauso, wie sie es mir gezeigt hat: Auch wenn ich in keiner Großküche arbeite, so trockne ich das Besteck nach ihrer Methode ab, »zack zack zack« werfe ich ein Teil nach dem anderen sauber poliert in die Schublade.
Oma Halima dagegen hat nie jemanden verurteilt. Sie konnte Sachen sagen wie: »Ich weiß nicht, warum wir kein Schweinefleisch essen dürfen, das ist doch auch von Gott.« Auch Elke nahm sie an wie jede andere Schwiegertochter und sagte: »Liebe ist doch das Gleiche, ob wir Deutsche sind oder Türken, Inder oder Afrikaner …« Sie litt häufig unter Kopfschmerzen, dann band sie sich ihr Kopftuch fester um die Stirn oder schnallte gar noch einen Gürtel darüber. Manchmal sagte sie: »Kinder, Kinder, irgendwann platzt mir noch der Kopf.«
Eines Tages stellte sich heraus, dass sie einen Hirntumor hatte. Sie kam ins Krankenhaus, und von dem Moment an ging es abwärts mit ihr. Mehrfach wurde sie operiert, und nach jeder Operation war sie weniger sie selbst. Oma Halima, das pulsierende Herz der Al-Mer-Familie, wurde zum Pflegefall. Für mich war das ein schrecklicher und befremdlicher Prozess, wie meine Oma, die immer eine solche Wucht gewesen war, diese große, mächtige, starke Frau mit ihrem lauten Organ und schallendem Lachen verfiel. Zuerst gingen ihr die Haare aus, dann wurde sie immer dünner. Als man ihr im Krankenhaus nicht mehr helfen konnte, wurde sie nach Hause entlassen. Da lag sie inmitten ihrer Kinder in einem Pflegebett. Elke und eine andere deutsche Schwiegertochter kümmerten sich viel um sie, der Al-Mer-Clan allerdings zankte sich darum, wer nachts ihre Bettpfanne leeren musste. Alle waren sie genervt, bis sie wieder ins Krankenhaus kam, um dort zu sterben.
Als es vorbei war, kamen wir alle dort zusammen. Ich hielt meinen Bruder an der Hand und sah fassungslos zu, wie meine Verwandten schrien und lauthals weinten, sich die Haare ausrissen und die Gesichter zerkratzten. Ich hatte meine Oma aus tiefstem Herzen geliebt und war unendlich traurig, so traurig, dass ich gar nichts sagen konnte und auch keine Tränen hatte. Dennoch hatte ich das Gefühl, dass keiner meiner Oma in diesem Moment so nah war wie ich, auch ohne Tränen, ohne Geschrei. Ich sah dazu keinen Grund, denn ich wusste genau: Meiner Oma Halima geht es jetzt gut.
Da bemerkte mein Vater, dass ich so ruhig dastand. Er stürzte sich auf mich, packte, schüttelte und schlug mich.
»Meine Mutter ist tot«, schrie er mich zwischen seinen Schlägen an. »Deine Oma ist gestorben! Und du hast nicht einmal eine Träne für sie?«
Er hob mich hoch und warf mich auf die Leiche meiner Oma, drückte mein Gesicht auf das ihre, sodass meine Nase in ihren Mund geriet, und zwang mich, sie zu küssen. Da verstummte das Geschrei und Geheul der anderen. Sie sahen mit großen Augen zu, wie mich mein Vater wie ein Verrückter auf die Leiche seiner Mutter drückte, und allen war klar: »Jetzt dreht der Hamid mal wieder völlig durch.« Aber niemand wagte jemals etwas gegen ihn zu sagen, schließlich war er der älteste Bruder.
Und in dessen Haus – also bei uns daheim – versammelte sich die ganze Sippe im Anschluss an diese schreckliche Szene. Dort ging der Tumult von Neuem los: Diesmal ging es um das Erbe. Denn es
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