Nicht ohne meine Mutter: Mein Vater entführte mich als ich ein Jahr alt war. Die Geschichte meiner Befreiung (German Edition)
erwachsene Frauen von Solidarität haben. Schließlich hatte Ulrike jahrelang nichts anderes getan als Sandra und die ganze Zeit darauf gewartet, dass sich Hamid von Elke trennen würde. Als ihre Rechnung nicht aufging und Hamid sie durch Sandra ersetzte, fand sie das gar nicht toll. Und auf einmal sollte Elke sich wehren.
Erst vor Kurzem erfuhr ich im Gespräch mit einer früheren Nachbarin, einer engen Freundin von Elke, dass Elke meinem Vater tatsächlich voll und ganz vertraute. »Ja«, gestand sie ihrer Freundin Angelika damals, die unsere Nachbarin war und mir hin und wieder bei den Mathematik-Hausaufgaben half, »er schlägt mich. Aber er ist mir treu wie Gold.« Mein Vater hatte sie offenbar derart eingelullt, dass sie all seine Eskapaden einfach nicht wahrnahm.
Jedenfalls fuhren Sandra und mein Vater kurz darauf ganz offiziell miteinander in Urlaub. Alle waren sich einig, dass man mir das am besten nicht erzählen sollte, warum auch immer. Mein Vater sagte oft, ich hätte »den Teufel in mir und jede Menge schlechte Gedanken«. Einen Tag bevor sie fuhren, habe ich es doch irgendwie herausgekriegt. Und reagierte so, wie es eigentlich Elkes Sache gewesen wäre: Ich machte einen riesigen Aufstand.
»Bist du bescheuert?«, fragte ich Elke. »Du kannst die doch nicht fahren lassen. Die beiden sind nicht einfach nur Freunde, siehst du das denn nicht?«
Aber Elke lachte mich nur aus. Ich sehe uns noch heute nebeneinander in der Haustür stehen, und während Elke ihrem Mann und Sandra nachwinkte und fröhlich »Schöne Ferien!« wünschte, sagte ich zu ihr: »Die werden auf jeden Fall in einem Bett schlafen. Das sind nicht einfach nur Freunde!« Sie aber zuckte nur mit den Schultern: »Ach was!«, meinte sie nur. »Was du nur wieder denkst.«
Ich konnte nicht verstehen, dass sie das so leichtnahm. Ich war nicht eifersüchtig auf die Geliebten meines Vaters, ganz im Gegenteil. Denn oft brachten diese Frauen frischen Wind in unsere Familie oder auch Geschenke und Süßigkeiten für uns Kinder. Ulrike zum Beispiel war ein »Milka Lila Pause«-Fan, was wir wunderbar fanden.
Nein, ich fühlte mich ausgeschlossen aus diesen Verhältnissen. Wie jedes andere Kind in meinem Alter hätte ich mir eine stabilere Familie gewünscht, klare Verhältnisse, einen Papa und eine Mama, die zueinander und zu uns Kindern standen, und zwar zu jedem von uns in gleichem Maße. Stattdessen fuhr mein Vater mit der Nähe und Ferne zu mir ständig Achterbahn: Mal war ich seine Vertraute und teilte seine Geheimnisse, war die »Frau«, die von Anfang an da gewesen war und ihn besser kannte als er sich selbst. Dann wieder schlug und bestrafte er mich übermäßig für kleinste Vergehen und beschuldigte mich, ich hätte eine schmutzige Phantasie. Und dann wieder vergaß er mich völlig, tauchte ab mit seinen Freundinnen und ließ uns im Stich.
Als ich zehn Jahre alt war, hatte ich eine Freundin namens Banu, die ebenfalls türkische Eltern hatte. Sie war so alt wie ich, aber während ich noch ein richtiges Kind war, war Banu ein wildes, frühreifes Ding, und zwischen ihr und meinem Vater herrschte diese seltsame Spannung, wie sie auch oft bei den fremden Frauen entstand, die in Elkes Abwesenheit auf unserem Sofa herumsaßen und Rotwein tranken, über die Scherze meines Vaters lachten und mit den Augen funkelten. Mein Vater behandelte meine kleinen Freundinnen oft genauso wie die erwachsenen Frauen, und mir war nicht wohl dabei.
Eines Abends durfte Banu bei mir übernachten. Banu ist ein seltener, türkischer Name und bedeutet »erhabene, vornehme Frau«. Es war schon spät, Elke war nicht da, und eigentlich sollten wir schlafen gehen. Da hatte mein Vater den Einfall, mich und meine Geschwister zur Eisdiele um die Ecke zu schicken, um Eis zu kaufen.
»Banu kommt aber mit«, sagte ich entschlossen, denn wieder hatte ich diesen komischen Ausdruck in den Augen meines Vaters gesehen.
»Banu bleibt hier«, sagte er ebenso fest.
Wir sahen uns in die Augen, und obwohl ich noch ein Kind war, fand zwischen uns eine Art Kampf statt. Ich sah ihn an und mein Blick sagte: »Ich weiß, was du vorhast, und das ist nicht in Ordnung.« Das machte ihn wütend, und sein Blick antwortete: »Was willst du? Du weißt gar nichts. Du darfst noch nichts wissen. Und wenn du es doch weißt, dann bist du eine kleine Schlampe!«
Ich verlor dieses Blickduell und zog mit Mourad und Meli an der Hand los. Irgendetwas in mir wusste, dass wir uns beeilen mussten; so
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