Nicht ohne meine Mutter: Mein Vater entführte mich als ich ein Jahr alt war. Die Geschichte meiner Befreiung (German Edition)
unverständliches Verhalten, einfach so davonzulaufen, ohne sich zu verabschieden. Sie konnten ja nicht ahnen, welche Panik der Anblick meines Vaters in mir ausgelöst hatte. Ich rannte zur Haltestelle, doch der Bus, den ich hätte nehmen sollen, war schon abgefahren. Mein Vater schloss zu mir auf.
»Komm«, sagte er, ruhig, doch mit einem gefährlichen Klang in der Stimme. »Hier drüben ist mein Wagen.«
»Was ist denn, Papa?«, fragte ich so harmlos wie möglich. »Warum holst du mich denn ab? Es ist doch noch gar nicht so spät! Ich wäre ja gleich gekommen …«
Wir stiegen in sein Auto, und je mehr ich versuchte, mich zu rechtfertigen, desto heftiger trat mein Vater auf das Gaspedal. Daran konnte ich erkennen, wie aggressiv er bereits war. Und ich hasste mich selbst, wenn ich mich so demütig gab und im Grunde nichts anderes tat, als um Gnade zu flehen.
Als wir aus dem Auto stiegen, musste ich auf ihn warten, auch das war eine eiserne Regel. Ich durfte nichts sagen ohne seine Genehmigung, ich durfte mich außer Haus nur bewegen, wenn er es sagte. Wie sehr genieße ich es heute, schon mal die Tür aufzuschließen und voranzugehen. Jemanden einmal nicht zu beachten. Doch damals musste meine hundertprozentige Aufmerksamkeit auf meinen Vater gerichtet sein. So sah ich, wie er einen schwarzen Gummiknüppel aus dem Kofferraum holte. Er hatte zwei Varianten von diesen Schlagwaffen: einen langen, schwarzen Gummiknüppel und einen Teleskop-Schlagstock. Diesmal holte er den Gummiknüppel heraus. Als ich den sah, begann ich zu winseln. »Nein!«, wimmerte ich, »bitte nicht!« Und doch wusste ich, dass es mir nichts nützen würde.
An der Haustür war es so, wie es schon damals gewesen war, als ich bei jenem Anwalt zu viel gequasselt hatte und mein Vater mir ankündigte, er werde mir die Zunge abschneiden: Ich musste immer dicht hinter meinem Vater bleiben und warten, bis er die Tür aufschloss. Obwohl ich wusste, was mich erwartete, oder es zumindest ahnte, lief ich niemals weg, denn mir war klar, es hatte keinen Zweck. Mein Vater würde mich einfangen und mich nur noch schlimmer bestrafen.
Kaum war ich ihm in den Flur gefolgt, fuhr er herum und schlug mir mit dem Gummiknüppel von hinten gegen die Beine, sodass ich einknickte und mit dem Gesicht voraus hinfiel. Immer weiter prügelte nun mein Vater auf meine Beine ein, auf meine Oberschenkel und den Po. Ich habe keine Erinnerung mehr daran, wie das weiterging; wie so oft bei den Bestrafungsorgien meines Vaters weiß ich noch, wie es dazu kam und wie es begann, doch dann ist alles wie ausgelöscht, und ich kann nicht mehr sagen, wie lange es dauerte, wann es aufhörte und vor allem, was danach geschah. Ich kann mich nur noch an meine Verletzungen erinnern: riesige Blutergüsse, die zu dicken, wulstigen, streifenförmigen Beulen anschwollen. Und an die Schmerzen, die mich noch viele Tage lang an diese Schulfeier und ihr abruptes Ende erinnerten.
Ich war nicht die Einzige in unserer Familie, die von meinem Vater verprügelt wurde, auch mein Bruder Mourad und Elke blieben davor nicht verschont. Die einzige Ausnahme bildete unsere kleine Schwester Meli, die für meinen Vater eine Art Engel oder Prinzessin war und seine Gewalt nicht zu spüren bekam. Sie wurde allerdings oft genug Zeugin der Gewaltexzesse und entwickelte Tics und Auffälligkeiten, was ich traurig und voller Sorge beobachtete.
In den Jahren meiner Pubertät war ich es, die im Fokus der Aufmerksamkeit meines Vaters stand und die er am meisten quälte. Erst viel später begann ich darüber nachzudenken, dass mein Vater mich möglicherweise auch aufgrund eines verqueren Gefühls der enttäuschten Liebe oft so schwer misshandelte. Wie bei jener Geschichte mit den Zwiebelringen:
Es war an einem ganz gewöhnlichen Abend. Mein Vater kam gutgelaunt von der Arbeit nach Hause. Wie immer wollte er seinen Snack serviert bekommen – nur dass ich an jenem Abend keine Lust dazu hatte. Ich saß in meinem Zimmer, war mit irgendetwas beschäftigt und dachte: »O nein, jetzt schon wieder dieser Küchenscheiß!«
Doch ein Nein gab es für meinen Vater nicht. Also ging ich in die Küche, bereitete ihm so schnell wie möglich seine Zwiebelringe und alles andere vor, etwas, was ich schon Hunderte oder Tausende Male für ihn gemacht hatte, und stellte ihm alles hin. Ich war schon wieder auf dem Weg zurück in mein Zimmer, als er mich rief, mit diesem Ton, den ich nur zu gut kannte, und der dafür sorgte, dass sich mein
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