Nicht ohne meine Mutter: Mein Vater entführte mich als ich ein Jahr alt war. Die Geschichte meiner Befreiung (German Edition)
Bauch schmerzhaft zusammenkrampfte.
»Komm mal her.«
Ansatzlos nahm mein Vater die Schälchen, die ich ihm gerade hingestellt hatte, und schleuderte eines nach dem anderen gegen die Wand. Gegen die Fensterscheibe. Gegen die geschlossene Küchentür. Es regnete Tomatenstücke, Paprikastreifen, Oliven, Käsestücke. Es regnete Zwiebelringe, die mochte mein Vater am liebsten.
»Was ist denn? Was hab ich getan?«
Da war es wieder, dieses Wimmern, der weinerliche Ton, für den ich mich schämte, ja, verachtete, die Stimme, die nicht meine war, die Angstschreie, die eine andere in Todesfurcht ausstieß – denn jetzt konnte alles passieren, alles.
Er wollte, dass ich selbst herausfand, was ich falsch gemacht hatte. Ich hatte keine Ahnung. Er schlug mir mit der flachen Hand mehrmals hart auf den Mund, was damals besonders weh tat, weil ich eine feste Zahnspange trug und sich die Drähte von innen in meine Lippen bohrten und sie aufrissen. Dann schlug er wie besinnungslos auf mich ein. Packte mich, schleuderte meinen Kopf viele Male gegen die Wand, bis kleine weiße Sterne vor meinen Augen zu explodieren begannen und meine Nase derart wehtat, dass ich fürchtete, sie sei gebrochen.
Er ließ ab von mir, und ich stürzte zu Boden, versuchte von ihm wegzurobben, meinen Kopf zu schützen. Es war nur eine kurze Pause, in der mein Vater in die Küche ging, um das große, schwarze Messer zu holen, das so oft Bestandteil einer Bestrafungszeremonie war. Schon war er wieder da, riss mich herum, dass ich auf dem Rücken zu liegen kam, kniete sich über mich, fixierte meine Ellbogen mit seinen Knien, sodass ich mich nicht wehren, nicht schützen konnte.
»Du liebst mich nicht«, schrie er mich an. »Sonst würdest du mir so etwas nicht antun.«
Es waren die Zwiebelringe, so viel verstand ich nach und nach aus seinem Wüten. Ich hatte sie nicht fein genug geschnitten. Mein Vater maß meine Zuneigung zu ihm daran, wie grob ich die Zwiebelringe schnitt. Heute hatte ich sie zu dick geschnitten. Und darum liebte ich ihn nicht. Ich hatte nicht die Zeit und Energie investieren wollen, um ihm perfekte Zwiebelringe zu servieren. Nicht einmal so viel war er mir wert. Er, der mich unter eigenen Entbehrungen mit nach Deutschland genommen hatte, damit ich in einer zivilisierten Umgebung aufwachsen, die Schule besuchen und etwas aus mir machen konnte, ich dankte es ihm auf diese Weise. Und während er mir all dies entgegenschleuderte, fuchtelte er mit dem Messer vor meinem Gesicht herum, spuckte mich an, verrieb mit der Hand seine Spucke mit dem Blut, das mir aus der Nase lief, holte mit dem großen schwarzen Küchenmesser aus und rammte es dicht neben meinem Kopf in den Fichtenholzboden. Einmal. Zweimal. Dreimal. Unzählige Male, und jedes Mal näher an meinem Gesicht. Dann schnitt er sich selbst in die Hand und spritzte sein Blut durch die Gegend, sodass wir später die Spuren an den weißen Wänden fanden. Er ließ es auch auf mich heruntertropfen, verrieb es auf mir, schreiend, weinend.
»Du liebst mich nicht!«
»Doch, Papa, ich liebe dich. Glaub mir, bitte, ich liebe dich.«
»Nein, du liebst mich nicht.«
Ich versuchte, Augenkontakt mit ihm herzustellen, denn ich wusste, manchmal holte ihn das aus seinem Wahnsinn zurück in die Wirklichkeit. An jenem Abend gelang es mir nicht. So sehr ich auch suchte, ich konnte seinen Augenstern nicht finden, den Funken, der meinen Vater ausmachte. Es war, als hätte ein Dämon von ihm Besitz ergriffen, der ihn gefangen hielt.
Wie lange ging das so? Wie oft rammte er das Messer in den Holzfußboden? Später legten wir Teppiche und Läufer über die Scharten. Überstrichen die Wände wieder mit weißer Farbe. Und genauso, wie wir die Messerschäden im Holztisch, die bei anderen »Gelegenheiten« entstanden, unter hübschen Deckchen verbargen, so hatten wir im Badezimmerschrank eine spezielle Abdeckcreme, mit der wir unsere blauen Flecken überschminkten. Auch als sie über die Jahre begann, ranzig zu riechen, erfüllte sie noch immer ihren Zweck.
Wie so häufig während einer solchen Bestrafungsaktion, bestellte er irgendwann seine gesamten Brüder ein. Er erklärte ihnen, was ich verbrochen hatte. Und wollte von ihnen wissen, ob ich es ihrer Meinung nach verdient hatte, noch weiterleben zu dürfen. So als bräuchte er Bürgen für mich, die für mich einstanden. Manchmal wollte er auch von seinen Brüdern wissen, ob ich ihrer Meinung nach in der Türkei verheiratet werden sollte. Meine Onkel
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