Nicht ohne meine Mutter: Mein Vater entführte mich als ich ein Jahr alt war. Die Geschichte meiner Befreiung (German Edition)
älteren Jungen sprach, und es meinem Vater erzählte, dann stand es schlimm um mich.
»Ich seh dich jeden Morgen von meinem Fenster aus, wenn du zur Schule gehst. Weißt du eigentlich, wie schön du bist?« Seine Stimme schien direkt in meinen Körper einzudringen. Mir wurde heiß. Ich hatte nicht geahnt, dass da einer war, der mich beobachtete.
»Ich kenne kein Mädchen«, fuhr er fort, »das so viel Geschmack hat. Du trägst nie zweimal dasselbe.«
»Ich kann nicht stehen bleiben und mit dir reden«, sagte ich scheu und ging weiter. Wie sollte ich ihm erklären, wie in der fernen Galaxie, in der ich zu Hause war, die Regeln aussahen?
»Ich heiße Lukas«, sagte der Junge, wendete sein Rad und schob es neben mir her, »und wohne dort drüben.«
»Du kannst auch nicht so neben mir hergehen. Wenn mein Vater uns sieht …« Wie sollte ich es ihm nur erklären?
»Wieso nicht?«, fragte er. Seine Augen waren hellbraun mit ein paar grünen und bernsteinfarbenen Pünktchen um die Pupille. Mein Herz schlug schneller.
»Mein Vater erlaubt das nicht.«
Mir fiel auf, dass ganz viele meiner Sätze mit »Mein Vater …« begannen.
»Wer war das mit dem Auge?«, wechselte Lukas das Thema. Er schien mich tatsächlich gut zu kennen.
»Ein Junge aus meiner Klasse«, antwortete ich.
»Das war aber nicht nett.«
Ich sah ihm kurz ins Gesicht, um herauszufinden, ob er sich über mich lustig machte. Es sah nicht so aus.
»Hörst du House ?«, fragte Lukas und hielt mir die Schallplattenhülle vor die Nase. » Buckethead, The Bomb? Ich hab mir die gerade geholt.«
Ich sah mir das Cover an und schüttelte den Kopf.
»Nein«, sagte ich bedauernd, »kenn ich nicht.«
»Guckst du kein MTV ? Oder VIVA ?«
Wieder schüttelte ich den Kopf und kam mir bescheuert vor. All das hatte mein Vater verboten, nachdem er zufällig einen Clip gesehen hatte, in dem die Sängerin fast nichts anhatte. Auch »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« fiel der Zensur zum Opfer, als Herr und Frau Richter eines Tages völlig ohne Vorwarnung übereinander herfielen – und mein Vater ausgerechnet in diesem Augenblick das Wohnzimmer betrat. Wir waren alle erschrocken über diese Szene, doch das kategorische »Aus« für die Serie, die mein Vater sofort aussprach, war eine herbe Enttäuschung.
»Nein«, sagte ich zu Lukas, »das darf ich nicht mehr gucken.«
Rasch prägte ich mir das Plattencover ein. Diese Musik würde ich mir so schnell wie möglich besorgen.
»Und ich darf auch nicht mit dir reden, verstehst du. Wir dürfen nicht stehen bleiben. Mein Vater ist sehr streng. Wir sind Muslime, und darum darf ich nicht mit fremden Männern sprechen. Wenn er das erfährt, bringt er mich um.«
»Tatsache?«, fragte er ungläubig.
»Tschüs«, rief ich und lief schnell weiter.
»Wir sehen uns«, rief er mir nach.
»Nein«, dachte ich, »wir dürfen uns nicht mehr sehen.« Und doch wünschte ich mir das nächste Mal schon jetzt herbei.
Das war sie also, die Liebe? Dass einem heiß und kalt wurde und das Herz bis hinauf in den Hals klopfte? Dass es in meinen Brüsten schmerzhaft zog und meine Muschi ganz heiß und feucht wurde? Dass es eine Heimlichkeit war, etwas Schlimmes, Verbotenes, machte die Sache noch aufregender.
Mir kam das alles vor wie in einem Märchen. Dass mich dieser Junge beobachtete – wie lange schon? Dass ihm aufgefallen war, dass ich nie zwei Tage hintereinander dasselbe trug – hatte er wirklich gesagt, ich hätte Geschmack? Dass er mich schön fand – trotz meiner Zahnspange und all den anderen Mängeln? Meine gesamte Kindheit lang hatte mein Vater keine Gelegenheit ausgelassen, mir unter die Nase zu reiben, wie hässlich ich sei. »Du hast die hässlichsten Augen, die ich mir vorstellen kann«, sagte mein Vater immer. Und Elke fügte hinzu: »Die schauen immer so traurig.« Ich hätte einen Entenarsch und Stelzbeine, behauptete mein Vater. Und wenn ich weinte, dann höhnte er, ich bekäme einen Entenmund. All das glaubte ich, wie alle Mädchen in meinem Alter war ich voller Komplexe. Und nun kam dieser coole Typ daher, sicher vier Jahre älter als ich, und sagte, ich sei schön?
Ich wusste, ich durfte Lukas nicht wiedersehen. Denn genau solche Begegnungen waren der Grund für die vielen Regeln und Verbote meines Vaters, das begriff ich jetzt. Doch ebenso klar war auch, dass ich mich nicht daran halten würde.
Von nun an sahen wir uns häufig, wir lebten ja in derselben Nachbarschaft, gaben uns heimlich kleine Zeichen. Ich
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